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Empfehlung des Monats

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Dezember 2014

Safiye Can: "Rose & Nachtigall"

Rose und Nachtigall (Buchcover)

"Wie viel anderes soll eine Dichterin noch sein / wenn sie Dichterin ist? / Wo sie doch schon alles ist beim Dichten / der Kompass, die Peilscheibe/ der Griff, die Klinge / das Wogende, die Zielscheibe."

Safiye Can, geboren 1977 in Offenbach, legte mit "Rose und Nachtigall" 2014 ihren ersten Gedichtband vor, der bereits in zweiter Auflage erschien. Drei wesentliche Themen zeichnen sich darin ab: Liebe, Kunst und heutiges Großstadtleben. Was erstere betrifft, so dominiert dieses zeitlose Motiv den Band, wird gezeichnet in all seinen Schattierungen in der Skala zwischen höchstem Glücksempfinden und bitterstem Schmerz, wobei letzterer mit dem Erleben des Verlustes gekoppelt ist. Dabei schlagen die Texte inhaltlich eine Brücke zur Türkei, dem Land, in das Cans tscherkessische Vorfahren gelangten. Das heutige Instanbul erscheint vorrangig als Schauplatz jener Liebesgeschichte, die der Autorin widerfuhr und die sie nun zu verarbeiten sucht. Dabei verbinden sich ihre Gedichte teilweise mit Traditionsbezügen, führen zurück in die türkische und osmanische Literatur, greifen auf das dort bereits vorhandene Motiv von "Rose und Nachtigall" zurück. Im Kontrast zu diesem "hohen" Motiv und weiteren Sujets, die symbolisch vorgeprägt erscheinen, werden auch gewöhnliche Dinge des Alltags in poetischer "Aufgeladenheit" wiedergegeben. Dabei entdeckt Can neben der ernsten auch die komische Seite ihres Liebeskummers bzw. stellt sich diesem mit Selbstironie.

Erfolgt immer wieder das Bekenntnis des "Ichs" zur Kunst, insbesondere der Poesie, so sucht Safiye Can ihren eigenen Standort als Poetin zu bestimmen. Die eingangs zitierten Worte zeigen, wie sehr sie sich als Dichterin empfindet. Als eine solche nimmt sie auch ihre Umgebung - etwa die der Großstadt Frankfurt - wahr in deren unruhigem Sound, dem Stakkato des "Jetzt", das sich in Streiflichtern und Impressionen kundgibt. Dabei werden Multikulturalität, Künstlertum, für das einzelne Personen repräsentativ stehen, Universitäts-Milieu, doch auch jene Seite der Großstadt, wo Banken und Banker multipräsent sind, eingefangen. Der impressionistische Grundgestus der Gedichte setzt sich um in rhythmisch-melodischen Sequenzen, wo eben Motive in Abwandlung oder syntaktischer Umkehr wiederkehren und das für die Poesie Cans so charakteristische Kontrastgefüge von Konkretem und Abstraktem entstehen lassen. Typisch für die Aussageweise der Autorin sind auch Sentenzen, die das Spannungsverhältnis zwischen "Ich" und Welt zu verallgemeinern suchen, wie: "Es ist leichter hundert andere/ Leben zu retten, als das eine / eigene" - wobei gerade diese Aussage allerdings zu hinterfragen wäre

Marianne Beese

Safiye Can
Kontakt

Tarotkarten aus dem Fenster geworfen
Verstaubtes ins Gedächtnis gehievt
dein Geruch, der Wind von Herbsttagen
deine Wärme, eine Seeanemone.
Engelsgeister flüstern von dir, stieben auf
wenn ich vor ihnen erschrecke.
Inmitten des Gedichtes sitze ich
den Kopf zwischen beiden Händen
dein letztes Wort
kann mich nicht erinnern.

Safiye Can: "Rose und Nachtigall. Liebesgedichte", Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2014,
ISBN 978-3-942223-64-5, eISBN 978-3-942223-65-2

November 2014

Polaritäten

Liebe Freiheit Mann & Frau (Buchcover)

"Kinder von Rosa und Radio Luxemburg", so lautet eine elliptische Verszeile aus Ralph Grünebergers zurückblickendem Gedicht "Mit Mick Jagger in Plagwitz" (1987), das zusammen mit weiteren lyrischen Texten, kurzen Prosaarbeiten, Essays, Briefen sowie Grafiken von Sighard Gille Eingang in die sehr lesenswerte Werkanthologie Liebe Freiheit Mann & Frau. Ein Lesebuch gefunden hat. Widersprüchlichkeiten, Polaritäten, Aporien und Ungleichzeitigkeiten politischer, sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und nicht zuletzt zwischenmenschlicher Provenienz bilden das zentrale Thema in Grünebergers Schaffen, das der vorliegende Band mit ausgewählten Beiträgen der Jahre zwischen 1978 und 2012 eindrucksvoll dokumentiert.

Spuren eines pragmatischen Literaturverständnisses, das Entwicklungen oder Veränderungen in mehr oder minder alltäglichen Situationen in den kritischen Blick nimmt, kennzeichnen das Œuvre des Leipziger Schriftstellers, der sich mit den Kurzgeschichten "Über das Ziel hinaus" (1999), "Schande" (2003) und dem Gedicht "Plagwitz, Klingenstraße" (1992) mit fremdenfeindlichen Tendenzen im öffentlichen Raum auseinandersetzt. Nur entfernt mag der erste Text an den Film The Incident (1967) erinnern, ist doch das Opfer nunmehr eine dunkelhäutige Frau, welcher der junge Protagonist nach anfänglichem Zögern mit einem Trick zu Hilfe eilt. Neben der bewiesenen Zivilcourage prägt jedoch insbesondere die unerwartete Schlusspointe den Leseeindruck.

Polare Entwicklungen werden in zahlreichen Nachwendegedichten zum Thema gemacht, so etwa in "Es war Sonntag" (1992) und "Die Stanzerin jetzt" (1993). Während der erste Text geschickt mit teils paradox erscheinenden, teils sarkastischen Zeilen operiert, um Gutgläubigkeit und Vertrauensmissbrauch der frühen 90er Jahre in den poetischen Fokus zu rücken, oszilliert das lyrische Ich in "Die Stanzerin jetzt" zwischen Umschulung und unerfüllter Wochenendehe. Aufschlussreich, wenngleich nicht eindeutig auflösbar ist in diesem Zusammenhang die unmittelbare Nachbarschaft zu Gilles Kaltnadelradierung "Flucht aus dem Paradies" (1987). Der semiotische Reiz, der sich im Nebeneinander von Text und Bild ergibt, lässt sich für zahlreiche Konfigurationen dieser Art konstatieren, zumal der Maler immerhin 23 Grafiken beigesteuert hat. Auf diese Weise wird der Leser zu einer spannenden Dreifachlektüre aufgefordert. Denn neben den Lesarten, die Text und Bild jeweils für sich nahelegen, resultieren aus deren Dialog zusätzliche Bedeutungsebenen der Intermedialität, die Spiegelungen ebenso zum Inhalt haben können wie bemerkenswerte Kontrafakturen.

In den Essays, Besprechungen, Nachrufen, literarischen Würdigungen und Briefen, die dieses Buch überdies versammelt, finden sich gleich mehrere hochinteressante Beiträge, die entweder paradoxale Entwicklungen aufzeigen oder einen literaturkritischen Gegendiskurs artikulieren. Ersteres ist in "'mein wort für spätre zeiten'" (2011), einer posthumen Laudatio auf Wolfgang Hilbig, der Fall. Grüneberger berichtet, dass der Kontakt zum späteren Büchner-Preisträger abbrach, als dieser nach dem Mauerfall in den Osten zurückkehrte. Offenbar keine ungewöhnliche Wende in der Literaturszene, die hier und andernorts auf die wiedergewonnene geografische Nähe mitunter mit größerer Distanznahme reagierte. Momente literaturkritischer Gegenrede beherbergt der Beitrag "Brecht mit Schuhmann lesen" (2005/2012), in dem Grüneberger Brechts Lehrgedicht "Lob des Revolutionärs" einer umsichtigen, von aktuellen Konstellationen ausgehenden Re-Lektüre unterzieht, die auch genuin sächsischen Sprachwitz jedenfalls dort einschließt, wo er in Vorwendezeiten gerne von homographischen Ambivalenzen lebte.

Trotz des beständigen Anlaufens gegen die Windmühlen des Zeitgeistes bleiben Witz, Wortspiel und Optimismus in dieser Anthologie nicht auf der Strecke. So formiert sich in dem Gedicht "Kltr" (1998) eine humorvolle Replik gegen den Sparzwang in den Kulturetats, der in kafkaesker Zuspitzung für das Orchester nur noch halbe Noten vorsieht und die Selbstlaute in den Bibliotheken einsp(a)rt. Größte Sympathie scheint aber jenem quijotesken Buchhändler zu gelten, der sich am Morgen in Zufallslektüren verliert und tagsüber einen verlustreichen, aber idealistischen Widerstand gegen die Anhäufung monolithischer Massenware leistet. Passanten zeigt er gerne den Weg in der Hoffnung, sie kehrten wieder zurück und ließen sich einmal auf die bibliophilen Attraktionen seiner Regale ein. Wenn dann der Griff auf das hier wärmstens empfohlene Buch fiele, so wäre zweifellos eine Stammkundschaft garantiert.

Norbert Schaffeld, Bremen

Ralph Grüneberger und Sighard Gille, Liebe Freiheit Mann & Frau. Ein Lesebuch, Halle, Edition Cornelius, Projekte-Verlag, 2012, 273 Seiten, ISBN 978-3-95486-253-5

Ralph Grüneberger

K l t r

Mündliche Filme.
Die Theater schneidern
Die Kostüme um. Pantomimen
In den Synchronstudios.
Wasser auf die Aquarelle.
Für Orchester halbe Noten.
Das Ballett ein Mausklick.
Wiederholen ohne einzuholen.
Lachsalven im Militärhaushalt.
Bücherprüfer in den Bibliotheken.
Zuerst die Selbstlaute eingsprt.

Sept. 98

Oktober 2014

Winterreise während der Hundstage

Cover-Republik-Erde (Buchcover)

Ich weiß nicht, welches Vergnügen größer ist: Odile Caradecs Lyrik in deutscher oder in französischer Sprache zu lesen ...

Es ist, als wetteiferten die beiden Sprachen um Witz, Anmut, Spott, Erotik und leiser Verwunderung miteinander und aus dieser Spielkartenschönheit beider Sprachen erwächst eine unbeschreibliche Spannung, die für mich den eigentlichen Reiz dieser Gedichte ausmacht. Ich stelle mir die Glücksmomente Rüdiger Fischers vor, wenn es ihm gelungen ist, die Caradecschen Texte in der Übersetzung neu zu erschaffen, ohne den typischen Odile-Ton zu zerstören. Ihre frechen, sehr direkten Worte wie Schlüssel zu nehmen und damit deutsche Türen zu öffnen... und welche Überraschung, wenn französische Vokabeln sich im Schloß deutscher Bedeutung drehen und ein Geheimnis entsteht, das nicht wirklich dem Text entsteigt, sondern unserem Kopf und das wie alle Geheimnisse unerklärbar ist.

Odile Caradec, in der Bretagne geboren und aufgewachsen, muss ihn geliebt haben, den genialen Rüdiger Fischer, bis zu seinem Tode kooperatives Mitglied der Lyrikgesellschaft, und ihm bedingungslos vertraut haben. Möglicherweise haben die beiden bei einer Flasche Sauvignon blanc auch lächelnd gefeilscht um la plus belle traduction, um Worte und ihre Huckepackfunktion, ihr Transportvermögen, ihren Grenzwert und ihre Solidarität in der jeweils anderen Sprache. Ist es denn möglich, dass sich ein Wort vor allem formt, weil man es nicht sagt? Mais oui!

Odile, Deine Unverblümtheit, Dein Charme, Dein provozierendes Lächeln..... wo und wann sind sie entstanden? In Brest, Deiner Kindheit am Hafen, die Dein Vater mit seiner Mehrsprachigkeit als Courtier maritime nachhaltig beeinflusste? Auf der Klosterschule in Quimper, wo Du Dein Abitur ablegtest, weil Deine Familie von der bedrohten und fast völlig zerstörten Küste flüchten musste ? Oder im Breisgau, in Freiburg oder Offenburg, wo Du nach Kriegsende 4 Jahre lang lebtest, weil Du Dich an Dein österreichisches Kindermädchen und den Klang der deutschen Sprache erinnertest? In Rochefort-sur- Mer, wohin Du dann als Deutschlehrerin zurückkehrtest?  Oder erst in Poitiers, der Stadt, der Du treu bliebst, weil Du erst dort die Zeit fandest, Dich ohne berufliche Zwänge der Literatur und der Musik zu widmen? Wie Deine Mutter konntest Du Geschichten auf dem Cello erzählen und Zeilen aufs Papier werfen, die vor allem in Zwischenzeilen sprechen. Voyage d´hiver en canicule/ Winterreise während der Hundstage, Du feu dans du feu / Feuer im Feuer, Cancers et nuits/ Krebse und Nächte, Portrait de femme en cave/ Porträt einer Frau im Keller par exemple.

Odile Caradec zeigt DAS, was Lyrik zu leisten imstande ist. Worte, die beim Lesen und Wiederlesen sowohl preisgeben als auch verschlüsseln und damit alles erreichen und MEER.

Simone Voß

O Lune

On m´as permis de m´appeler Odile
de commencer mon nom par un grand O
vide

Qu´aurais-je mis dedans sinon des cerceaux
et des ronds de chapeau?

On m´a vue faisant partout des ronds dans l´eau
Ce n´était pas photogénique.

 

Je retrouve tout dret des boniments
où l´on parle de soi en versification prolunaire
et s´endormant quasi
entre les branches débonnaires
des grands matous que sont les arbres cervicaux

Avec le gros derrière de la lune
On fait des voiles nuptiaux
Tant pis si tout cela pète
Sur la mer des tempètes

***

O Mond

Man hat mir erlaubt, mich Odile zu nennen
meinen Namen mit einem großen
leeren O zu beginnen

Was anders als Reifen
und Hutschwenken hätte ich reintun sollen?

Man hat mich überall Kreise im Wasser bilden sehen
das war nicht fotogen

Ich finde gradewegs die Märchen wieder
wo man in prolunaren Versen von sich redet
und quasi einschläft
zwischen den gutmütigen Zweigen
der Hirnbäume, dieser großen Kater

Aus dem dicken Hintern des Mondes
werden Brautschleier gemacht
ach lasst es krachen
auf dem Meer der Stürme

übertragen von Rüdiger Fischer

Odile Caradec "Republique Terre/ Republik Erde"
Poèmes /Gedichte
Odile Verlag Bad Oldesloe
www.odile-verlag.de

Die Dichterin Odile Caradec, die im Februar 2015 ihren 90. Geburtstag feiert, liest ihr Gedicht "Dents bleues" („Blaue Zähne“) auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=CEty4HkJFRM

September 2014

Michael Manzek "Polaroids" Laeser edition 2013

Michael Manzek "Polaroids" Laeser edition 2013 (Buchcover)

Es grenzte an Wunder Sofortbilder zu haben. Dass uns schnelle Schnappschüsse von Polaroidkameras erfreuten, ist noch gar nicht so lange her. Heute posted man Selfies ohne Zeitverzug in alle Welt.

Michael Manzek ein leiser und gründlicher Arbeiter, wie frühere Arbeiten zeigen, gibt mit seinem neuesten Werk "Polaroids" lyrischen Schnappschüssen Form und Gesicht. Nur scheinbar verlässt er sein sonst bevorzugtes Feld: die Musik.

Im Buch, exakt in der Größe von Polaroids, stehen 20 Fotos 10 Texten gegenüber.

Schwer zu sagen, was schwerer wiegt: Die Fotografien mit Text versehen, Texte bebildert. Ich neige zu Letzterem, denn die Fotos müssen nicht zwangsläufig Polaroids sein. Die Texte sind es auf alle Fälle. Der Autor schreibt auf, was von einem Augenaufschlag zum nächsten in seinen Blick gerät. Der nächste Satz gilt schon dem Blick mit einem anderen Winkel. Er fotografiert mit Worten. Sein Werkzeug ist diesmal das Licht und nicht die Saite der Gitarre.

Wie Lichtreflexe auf einem Sommersee reihen sich Beobachtungen. Die Worte korrespondieren untereinander auf sehr ungewöhnliche Weise, (da eigentlich ohne direkten Zusammenhang) und schaffen eine betörende lyrische Stimmung, der gelungenen Wortbilder wegen und alles ohne Reim. Jeder der kleinen Texte ist für sich bereits ein Mosaik aus verschiedenen Polaroids.

Einige der Reflexionen stechen direkt ins Auge, zeigen den Autor, ohne dass er direkt ins Bild gerät und ergeben aneinandergereiht ein neues Polaroid:

"Niemand … opfert seine Flügel dem Schlaf / Sie traut sich aus dem Nebel als tiefster Celloton / Nimm die leichte Biegung der Nacht zum Anlass, der Zeit zu entfliehen /

Die Reise des Lichts beginnt, noch eh es dich weckt / Wer bereist allein die Rolltreppe … / Eine Frau, die ihren Hund im Kinderwagen spazieren fährt. Ein Mann auf Kollisionskurs mit der Eckkneipe.

Dein Sonnenuntergang. Dein Vorsprung Licht."

Ich danke dem Autor, die sehr unterhaltsame Art mit seinen Worten immer neue Mosaike zu erspielen. Vielleicht hat er so ungewollt eine Spielanleitung für sein übriges Werk geschrieben.

Jürgen Polinske

Michael Manzek
Polaroids
Gedichte und Fotos
Gedichte 2012-2013
www.michaelmanzek.de

August 2014

Dialog von Wort und Bild

Jutta Pillat - blaue stunde. Gedichte zu Gemälden von Uwe Pfeifer (Buchcover)

Aktiven Lesern des "Poesiealbum neu" ist bereits vor Jahren die künstlerische Verbindung der Leipziger Autorin und promovierten Pädagogin Jutta Pillat zu dem Hallenser Maler und Grafiker Uwe Pfeifer aufgefallen. In der Ausgabe "Bild und Bilder" von 2010 veröffentlichte sie das Gedicht "klammerkind" zu Pfeifers Gemälde "Bildnis Tobias". Zwar gehört das zum Anfang einer mehrjährigen Zusammenarbeit, die in den Zyklus "blaue stunde" münden sollte, doch hatte die Autorin bereits in den 1980er bei einer der DDR-Kunstausstellungen in Dresden Pfeifers Bilder eindringlich wahrgenommen. Denn schon in den 1970ern, als junger Absolvent der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, machte Pfeifer (Jahrgang 1947) "die Gefährdung von Lebenswelten durch eine verheerende Bau- und Umweltpolitik deutlich" (Klaus Hammer). Und Uwe Pfeifer ist sich und seiner Kunst treu geblieben, so dass die Magie seiner Werke Jutta Pillat auch nach 2012 nicht losgelassen hat und mittlerweile weitere Texte zu Lithografien von Pfeifer entstanden sind.

Der vorliegende Zyklus "blaue stunde" umfasst neben einem Prologgedicht 16 Bild-Text-Paare, die vor dem Leser in einen Dialog treten und ihn einladen, mit zu sehen, mit zu entdecken, mit zu deuten. Der Reiz besteht im Vis-a-Vis von lyrischem Text und bildnerischem Ausdruck. "Vor unsere Augen treten beeindruckende Metaphern einer widersprüchlichen, zum Teil erschreckenden Zeit, die deutsche Geschichte ist im Hintergrund ständig präsent. Großartige Bildkunst und eine zu ihr stehende Lyrik kommen hier in eins [...]", schreibt unser Mitglied Manfred Jendryschik, der diesen Band bis zur Drucklegung begleitet hat.

Uwe Pfeifer - Demütigung
Uwe Pfeifer - Demütigung

Wenn man Gottfried Benn darin folgt, dass Gedichte nur selten entstehen, sondern vielmehr gemacht werden müssen, dann ist eben dieser Zyklus ein beredtes Beispiel dafür, dass es gerade bildende Kunst vermag, immer wieder aufs Neue den Anstoß für eine Vermittlung in Lyrik zu geben. Und die Vielfalt der mehr oder minder freien Formen, die Jutta Pillat dabei einsetzt, spricht für ihr jeweils objektbezogenes, unmaniriertes Vorgehen. Für den Leser ein bleibender Eindruck.

In der demnächst erscheinenden "Poesiealbum-neu"-Ausgabe "Weißlut. Farben im Gedicht" wird eine Kostprobe aus dem Zyklus zu Pfeifer enthalten sein.

Ralph Grüneberger

Jutta Pillat, "blaue stunde. Gedichte zu Gemälden von Uwe Pfeifer", Edition TB, Leipzig 2012, ISBN 978-3-00-037003-8, Preis 14,40 EUR; Bestellungen über Buchhandel oder direkt bei jutta@pillat.de

Juli 2014

Hanns Cibulkas Modernität

Hanns Cibulka: Wo deine Fragen offen sind (Buchcover)

Hanns Cibulka (1920-2004), dessen Lyrik und Prosa zu DDR-Zeiten eine große Leserschaft hatten, scheint heute weitgehend vergessen. Gewiss, die Literaturgeschichte ist ungerecht und die Rezeption unterliegt Stimmungen des Zeitgeistes. Umso verdienstvoller ist es, dass sich Heinz Puknus, ein westdeutscher Germanist, der Bücher über Wolfgang Hildesheimer und Rolf Hochhuth geschrieben hat, des Werkes von Hanns Cibulka kenntnisreich und voller Empathie angenommen hat. Nach dem Auswahlband "Die blaue Farbe des Windes" (2005) erschien nun in der Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen der Gedichtband "Wo deine Fragen offen sind".

Wulf Kirsten, der am 21. Juni 80 Jahre alt wurde, haben wir den Impuls zu diesem kleinen Buch wesentlich zu verdanken. Kirsten und Cibulka verband vor allem die stille, beständige Existenz jenseits der Aufgeregtheiten eines Literaturbetriebes, der im Herbst schon vergessen hat, was im Frühjahr auf den Bestsellerlisten stand. Hanns Cibulka leitete von 1953 bis zu seiner Pensionierung 1985 die Stadt- und Kreisbibliothek "Heinrich Heine" in Gotha.

Als Lektor der von Gerhard Wolf kongenial edierten Auswahl "Losgesprochen" (zuerst 1986), habe ich Cibulka mehrfach an seinem Arbeitsort besucht. Zu dieser Zeit hatte er mehr als ein Dutzend Bücher in hohen Auflagen veröffentlicht. "Losgesprochen" wurde mehr als 30 000 Mal verkauft. Auch für den Reclam Verlag Leipzig ein erstaunlicher Erfolg, denn die Gedichte dieses Autors waren traditionell geformt und keineswegs spektakulär.

Nicht spektakulär, aber wirkungsmächtig. In "Lagebericht" heißt es: "Es muß sehr dunkel sein / in den Lichterstädten der Welt, / daß wir so wenig sehen,/ sehr laut, / daß wir so wenig hören. // Kein Landgewinn, / die Einäugigen / lehren." Hanns Cibulka fand eindrucksvolle Bilder für die Umweltkatastrophe, in der der real existierende Sozialismus steckte. Da wurde er politisch und zornig, da kämpfte der bescheidende Bibliothekar aus dem Thüringischen um jede Gedichtzeile, um jedes Wort. Als die zweite Auflage von "Losgesprochen" erschien, war es uns gelungen, bisher von der Zensur gestrichene Passagen unterzubringen. Cibulka freute sich wie ein kleiner Junge.

Der nun vorgelegte Band gibt einen Einblick in das lyrische Gesamtwerk. Kindheit und Jugend in der sudetendeutschen Heimat, die Jahre als Wehrmachtssoldat, Kriegsgefangenschaft auf Sizilien und das befreiende Erlebnis der mediterranen Kultur prägten seine Gedichte. Michael Zeller brachte es in einer Studie über die moderne deutsche Lyrik auf den Punkt: "Gedichte haben Zeit". Und manchmal brauchen sie auch einfach Zeit, um uns wieder in ihren Bann zu ziehen.

Dem Gedicht "Sturm" hat der Herausgeber den Titel seiner Auswahl entnommen: "Segelharte Böen / knallen an die Mauer, / o dieser Hunger nach Weite, / nach Raum. // Sturm, / die Luft in meinem Zimmer / ist verbraucht, / ich stoß das Fenster auf. // Wo beginnen, / schrei ich ihm entgegen. // Dort, / wo deine Fragen offen sind."

Klaus Pankow

Hanns Cibulka: Wo deine Fragen offen sind, Wartburg Verlag, Weimar 2013, 88 Seiten, 11 Euro, ISBN 978-3-86160-340-5

Juni 2014

Wenn nur einer meine Stimme hört

Blüten treiben im Schnee (Buchcover)

"Fötushaft liegen / embryonal wiegen // erfrieren // liegen", die Worte "wiegen / wiegen, wiegen / bis die Eisknoten / schmelzen am Herz". Fest auftreten, genau hinsehen, fühlen... "dünnhäutig // reiße ich die / beschlagenen zähne / auseinander".

Johanne Jastram, Jg. 1947, aufgewachsen in Mecklenburg, bis 2008 Bibliothekarin an der Anhaltischen Landesbücherei Dessau, künstlerische Leiterin des Autorenkreises "Wilhelm Müller", legt nach Jahren des Schreibens und zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien nun ihren ersten Gedichtband vor: "Blüten treiben im Schnee".

In sieben Kapiteln führt Jastram den Leser durch Erlebnisräume, deren Verse über den Zeilenrand hinaus zu knistern, zu leuchten scheinen. Die Sprache genau, zart, leise und kraftvoll. Wie mit einem Pinselstrich gezeichnet die Bilder: zeitlos, klar und schön. "wenn nur einer/ meine stimme hört // mein eismund / erblüht wieder".

Es sind die uralten Themen: das In-der-Welt-sein, die Natur, die Jahreszeiten, die großen und die kleineren gelebten Leben. "sage Elia / wo komme ich her / wo gehe ich hin?" Erinnerungen wie streunende Hunde, Kindheit, "Magische Wiedergeburt", das Unsagbare, das Leise einer Berührung noch nach Jahren. Urvertrauen, Unrecht und Verrat. Die Sehnsucht nach Frieden, Liebe, das Zu-Bewahrende, Menschliche. Die Schatten in uns. Hoffnung, Verzweiflung und Mut.

"Dann und wann / aus meinem Steinhaus gehen / In vertraute Gesichter sehen / und die Schatten der Toten / fühlen bis ich mich / in ihren Seelen spiegeln kann // Dann und wann / aus meinem Steinhaus gehen / damit ich leben kann".

Bemerkenswert die künstlerisch ausgestattete Hardcoverausgabe. Spannend mitzuerleben, wie Gedicht und Illustration zueinander ins Gespräch finden.

Wie es ihr sagen? Ich habe ihre Stimme gehört. Mein Eismund erblüht wieder. Mögen viele Jastrams Stimme hören.

Peter Fochmann

Johanne Jastram, "Blüten treiben im Schnee", Gedichte, Hardcover, dr. ziethen verlag Oschersleben, ISBN 978-3-86289-066-8, 12,99 Euro

Mai 2014

Nachrichten aus einem literarischen Universum

Vom allmählichen Verfertigen von Welt im Dichten (Buchcover)

Peter Gosses Essayband "Vom allmählichen Verfertigen von Welt im Dichten"

Das Problem mit Literatur über Literatur ist, dass man die in Bezug gesetzte möglichst gelesen haben sollte, um dem Geschriebenen auch folgen zu können. Das ist meistens so, aber nicht immer. Manchmal ist die Literatur über Literatur so lehrreich, vergnüglich und inspirierend, dass sie fast - ein Frevel? - erbaulicher erscheint als diejenige, die sie zum Thema hat. Bestenfalls fühlt sich der Konsument motiviert, die Bezugstexte (erneut) zu lesen. Peter Gosses zu seinem 75. Geburtstag im vergangenen Oktober erschienene Essaysammlung ist so ein Fall zwischen Lust haben und Lust bekommen. Schon die Auswahl lässt über ihre Bandbreite staunen, streckt sie sich doch von klassischen, frühen Werken bis in die Gegenwart und hat keine falsche Scheu, Hölderin und Petrarca neben das Laterne-Lied zu stellen. Spätestens beim letzteren stellen sich leserseits Vertraulichkeiten ein, und ja: Bei aller Sprachmannigfaltigkeit spricht das Buch auf Augenhöhe mit dem Leser. Gosse spaziert von Walter von der Vogelweide bis zu Walt Whitman, von Georg Maurer zu Elke Erb und landet nicht zuletzt beim Hildebrand-Lied, das Ganze aufgeteilt in fünf Kapitel. Jedes Essay ist Verdeutlichung, Deutung und Standpunkt, ohne absoluten Anspruch, vielmehr mit sacht gesetzten Fortwirkungsimpulsen, die nachgehen. Die Länge der einzelnen Essays ufert nie aus und ist gleichwohl nicht zu kurz. Peter Gosses Erzählsprache oszilliert in gewohnter Weise, sodass diese Texte nachhaltiges Vergnügen bereiten; ob mehr als der Bezugstext, mag der Leser für sich entscheiden. Das Buch ist auch eine Art Wanderung durch die Weltgeschichte, eine Art Essenz eines großen Ganzen.

(Maren Schönfeld)

Peter Gosse: Über das allmähliche Verfertigen von Welt im Dichten. Essays
Hrsg., gestaltet und mit einem Nachwort versehen von Jens-Fietje Dwars. Mit sechs Zeichnungen von Volker Stelzmann. 128 Seiten, Zweifarbdruck in Schwarz und Rot, Fadenheftung in Engl. Broschur mit handmont. Etikett in Prägung, zinnoberrotes Vor- und Nachsatzpapier, schwarzer Lesefaden, 500 num. Expl.
50 Vorzugsexemplaren liegt je eine signierteRadierung "Porträt Gosse" von Volker Stelzmann bei, gedruckt von der Kupferdruckerei Dieter Béla.

ISBN 978-3-943768-12-1, Edition Ornament im quartus-verlag
Vorzugsausgabe Nr. 1-50: EUR 59,90, Normalausgabe Nr. 51-500: EUR 14,90

April 2014

Viertel nach liebenswert oder Alles über Jungen und Mädchen

Der beste Tag aller Zeiten (Buchcover)

Kinderlyrik aus dem englischen Sprachraum – derzeit gibt es wohl nichts Vergleichbares auf dem deutschen Buchmarkt

"Kindergedichte werden kaum ins Deutsche übertragen", so die Herausgeberin Susan Kreller in ihrem Nachwort, "zeitgenössische Kinderlyrik erfährt ungleich seltener eine Nachdichtung." Und Susan Kreller weiß, wovon sie spricht, hat sie doch zur Übersetzung englischsprachiger Kinderlyrik promoviert. Die Herausgabe des Buches, das sie mit viel Sachkenntnis, Sorgfalt und Aufwand zusammengestellt hat, ist als eine editorische Besonderheit anzusehen.

Das großzügige Format und die Gestaltung geben den Gedichten und Zeichnungen Raum, um sich zu präsentieren. Die Bilder von Sabine Wilharm (illustrierte die deutschen Harry-Potter-Bücher) sind zusätzlicher Gewinn: sie verstärken die Wirkung der Gedichte und fügen ihnen eine weitere Ebene hinzu. Die farbigen Abbildungen sind kindgerecht, aber auch Erwachsene haben ihre Freude an den fantasievollen, dynamischen Bildern, die zum genauen Betrachten einladen - immer wieder finden sich neue Details. Geschickt verwebt Wilharm in ihren Zeichnungen häufig gleich zwei oder drei Gedichte miteinander.

Die lyrische Auswahl ist bemerkenswert: nahezu jedes Gedicht ist eine deutsche Erstveröffentlichung und, sieht man von bekannten Namen wie Carroll, Dahl, Hughes, Milne oder Stevenson ab (die man zumeist nicht in erster Linie mit Lyrik verbindet), sind viele neue Stimmen (z.B. aus Namibia, Neuseeland oder Jamaika) zu entdecken. Das Spektrum ist breit: Die Auswahl vereinigt Nonsens und skurril-komische Verse, Sprachspiele, Nachdenkliches, Anrührendes, Schauriges, Sinnliches. Ebenso findet sich Poetisches auf hohem Niveau (Hughes' "Polarfuchs"). Die Texte halten überraschende Aussagen bereit ("Kiwis" von Peter Hawes oder "Keine Omas in diesem Gedicht" von Roger McGough) und spielen mit der kindlichen Erlebniswelt ("Was ich in letzter Zeit so tue" von Allan Ahlberg) - und das teilweise auch ironisch bis paradox ("Liebe Mama" von Brian Patten oder "Alles über Jungen und Mädchen" von John Ciardi). Susan Kreller wurde mit ihrem Debüt, dem Kinderbuch "Elefanten sieht man nicht" (nachdrücklich zur Lektüre empfohlen!), bekannt. In diesem thematisiert sie Kindesmisshandlung aus der Sicht einer 13-Jährigen. Und auch im vorliegenden Band gibt es erfreulicherweise ernste Themen wie unerfüllte Adoptionswünsche oder zerrüttete Familien, jedoch ohne dass diese für Kinder zu bedrückend geraten sind.

Der beste Tag aller Zeiten
Copyright: Carlsen Verlag, Illustratorin: Sabine Wilharm

Gedichte von mehr als 80 Lyrikerinnen und Lyrikern (aus drei Jahrhunderten) versammelt der Band. So nimmt es nicht Wunder, dass dabei auch eine Handvoll schwächerer Texte zu finden ist (schade z.B., dass im Alligator-Gedicht von John Agard die Pointe schon im Titel verraten wird oder dass "Für meinen Sohn" von Siegfried Sassoon so didaktisch ausfällt).

Eine besondere Erwähnung gilt den Nachdichtern Henning Ahrens und Claas Kazzer, deren Übertragungen ein hohes Maß an sprachlicher Schönheit und ein Gespür für Rhythmus besitzen. Der Abdruck der Originaltexte und ein biographischer Anhang zu den Autoren runden die Anthologie ab.

Ein geglücktes, verdienstvolles Unternehmen, dessen Ergebnis im besten Sinne unterhaltsam ist, und ein zu Unrecht wenig beachtetes und kaum bekanntes Gebiet neuen Lesern erschließt. Unbedingt zu empfehlen auch für Kindergärten, Schulen und Bibliotheken, zumal der Band ein zauberhaftes Bibliotheksgedicht enthält.

Synke Vollring

Nikki Grimes
Warten

Das Waisenhaus
hat mein Foto
auf eine Postkarte gedruckt.
Mein Lächeln sagt:
"Nehmt mich! Nehmt mich!"
Aber meist sagen die Leute,
ich wär zu alt zur Adoption,
wie eine abgelaufene Uhr
(ticktack, ticktack),
deren großer Zeiger auf
Viertel nach liebenswert steht.

(deutsch von Claas Kazzer)

Es freut uns, dass unsere Empfehlung des Monats April im Bereich Kinderbuch für den Jugendliteraturpreis 2014 nominiert wurde; wir drücken die Daumen!

Der beste Tag aller Zeiten : weitgereiste Gedichte / hrsg. von Susan Kreller. Aus dem Engl. von Henning Ahrens und Claas Kazzer. Mit Ill. von Sabine Wilharm. – Hamburg : Carlsen, 2013. – 127 S. : zahlr. Ill.
ISBN 978-3-551-58293-5

Der beste Tag aller Zeiten
Copyright: Carlsen Verlag, Illustratorin: Sabine Wilharm

Der beste Tag aller Zeiten
Copyright: Carlsen Verlag, Illustratorin: Sabine Wilharm

März 2014

Walter Hincks eigene Spuren

Walter Hinck: Lebensspuren (Buchcover)

Von Wolfgang Braune-Steininger

In der Germanistik ist Walter Hinck schon lange ein Begriff. Bücher über Heine und Brecht sowie literaturhistorische Abhandlungen über die deutschsprachige Ballade und Exillyrik haben seine Bekanntheit mitbegründet. Im Reclam Verlag edierte er zwei Bände mit Interpretationen von besonders nachhaltigen Gedichten der Gegenwart. 2012, im Alter von 90 Jahren, legte der Emeritus seinen ersten Lyrikband vor. Die meisten Gedichte waren schon vorher in Zeitschriften und Anthologien erschienen. Trotzdem kann man von einem Debüt sprechen, denn ein Gedichtband bildet ein eigenes Netzwerk von poetischen Zeichen. Schlüsselwörter, bestimmende Motive und Querverweise werden ersichtlich, die in einer Einzelpublikation so nicht zur Geltung kommen würden.

In den mit Betitelungen wie "Eislandschaft" und "Mut zur Gegenwart" versehenen Bandkapiteln werden diverse Lebensstationen, etwa die Zeit von Gefangenschaft und Heimkehr, reflektiert. Warngedichte, die in ihrer Eindringlichkeit und Appellationskraft ähnlichen Genretexten von Günter Eich und Ingeborg Bachmann durchaus an die Seite zu stellen sind, sehen die Gefahr eines wieder aufkommenden nationalistischen Extremismus in der Bundesrepublik. Eine atmosphärische Studie über das Griechenland der Militärjunta in den 1970er Jahren beschließt den Band, dessen Schlusssektion mit "Abschied vom Gedicht" überschrieben ist.

Dennoch würde eine Verengung auf das Politische dem Themenreichtum und der stilistischen Vielfalt von Hincks Lyrik nicht gerecht werden. Gerade in den Liebesgedichten zeigt sich ein erfrischender Humor, der auch vor Selbstironie nicht Halt macht. Überaus einprägsam wirken folgende Verse (S.33):

PSYCHOANAPARALYSIERT

Ich wurde aus Liebe blind auf der Bank
im Hörsaal, denn s i e studiert hier Jus.
Ich wusste noch nicht, wie krank
ihre Psyche ist durch den Ödipus-
und Kastrationskomplex.

Nun konsultiert sie zu ihrem Heile
zwar gründlich "Le deuxième sexe"
von Simone de Bouvoir -
man stach allerdings mittlerweile
auch meiner Liebe den Star.

Walter Hinck

Walter Hinck, Lebensspuren. Warn-, Überlebens- und Liebesgedichte.
Hardcover, 47 Seiten, ISBN 978-3-416-03361-9, Bouvier Verlag, Bonn 2012

Februar 2014

Jubiläumsgeschenk zur 800-Jahr-Feier Bielefelds

Sigrid Lichtenberger: Der Stadt Schönstes

Sigrid Lichtenberger: Der Stadt Schönstes

Anlässlich der diesjährigen 800-Jahr-Feier der Stadt Bielefeld hat Sigrid Lichtenberger ein lyrisch-fotografisches "Stadtbuch" im Pendragon-Verlag vorgelegt und zu diesem Zweck gemeinsam mit ihrer Tochter Karin Lichtenberger-Eberling den Öffentlichen Raum Bielefelds und ihre zweite Heimat neu entdeckt.

Im ständigen Dialog mit den von ihr ausgewählten Skulpturen aus Stein, Bronze oder Eisen gibt sie Raum für Phantasie und erschließt uns Orte in Bielefeld, die man womöglich flüchtig oder noch gar nicht kennt. Insofern ist ihr Band auch ein Stadt- und Kunstführer, der neugierig auf vieles macht, was die 800 Jahre "alte" Stadt zu bieten hat.

Die (witterungs)beständigen Objekte erwecken Anreiz, über den Sinn unseres flüchtigen Daseins in der Welt nachzudenken. Darüber hinaus erfährt man Dinge wie die richtige 'Behandlung' von Skulpturen oder Historisches und Religiöses über Bielefeld und bekommt Ideen zur weiteren Stadtgestaltung ("Stadtverwaldung / statt / Stadtverwaltung"). Prägnante Plätze Bielefelds von der Ravensberger Spinnerei bis zur Sparrenburg werden erkundet. Durch ihre Lyrik hebt Sigrid Lichtenberger die formalen Begrenzungen der Skulpturen auf, um sich Themen wie Freiheit und Ungerechtigkeit sowie Sinnhaftigkeit und Miteinander zuzuwenden.

Das gewisse "Extra" ihrer gut verständlichen Lyrik besteht in ihrem politischen, philosophischen, geografisch-ortenden Unterton. Das wundervolle Gesamtpaket von Fotografie und Text wird mit Rodins Der Denker (Kunsthalle) auf dem Cover optimiert. Wer sich überzeugen möchte, dass es all dieses in Bielefeld wirklich gibt, sollte mit dem Buch in der Hand die Plätze aufspüren und dabei folgenden Vers von Sigrid Lichtenberger im Hinterkopf haben:
"Das ist wohl einfach das Prinzip / auf dieser Welt / einer reckt sich / der andere fällt".

Franziska Röchter

Fallende Steine

Dass etwas fällt
was wir erbauten
dass nichts erhalten bleibt
für allezeit

das ist das Tragische
bei allem Lebenseifer

dass etwas stürzt
doch nicht zerfällt
sondern im Stürzen innehält
das ist verwunderlich

Fallende Steine
Nikolaus Gerhart | Adenauerplatz | 1981

Sigrid Lichtenberger: Der Stadt Schönstes
Mit Farbfotografien von Karin Lichtenberger-Eberling
und einem Vorwort von Irene Below
Pendragon Verlag 2013, ISBN 978-3-86532-80-4, 126 S., geb.

www.pendragon.de


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