Empfehlung des Monats
Dezember 2015
Der Arche Kinder Kalender
Er erscheint seit nunmehr 30 Jahren und ist damit so etwas wie ein "Qualitätsanker" in der immer unübersichtlicher werdenden Kalenderflut: der Arche Literatur Kalender. Ihm zu Seite gestellt wurden im Laufe der Zeit der Arche Musik Kalender, der Arche Küchen Kalender und nun, mit fünf Erscheinungsjahren das jüngste Projekt, der Arche Kinder Kalender.
Das Titelbild 2016 zeigt einen Eisvogel im Frack, auf einem Goldfisch reitend, eine Angel in der Hand, daran: der Mond. - Ein geradezu magisches Bild. Es gehört zu einem im November platzierten französischen Gedicht von Daniel Reynaud: "Die Schleie". Die Illustration stammt von Maurizio Quarello.
Und das ist das Besondere an diesem Kalender: kein Übersetzer oder Illustrator wird hier irgendwo auf den hinteren Kalenderseiten oder klein im Impressum versteckt. Hier sind sie auf allen Seiten präsent.
Jedes Wochenblatt umfasst eine Originalillustration der Gedichtquelle, das Gedicht im Original(schriftbild) und in der eigens für den Kalender in Auftrag gegebenen Übersetzung durch renommierte Nachdichter. Diese drei Ebenen versteht der Gestalter Max Bartholl geschickt zu verbinden und führt uns so in nahe und ferne Gedicht- und Bildkulturen, wie nach Frankreich, Polen, Italien, in die Niederlande, nach Estland, Ungarn, Griechenland, Portugal, China, Japan, Brasilien, Südafrika, Russland, in den Iran und weiter. Die Entstehungsjahre der Gedichte kann man im sorgfältig zusammengestellten Quellenverzeichnis nachlesen.
Den Kalender zeichnet eine hohe Druck- und Papierqualität aus, und das Einzige, das man sich noch wünschen könnte, wäre ein verstärkter Rücken, der das großzügige Format stabilisiert.
Initiiert wurde der vierfarbige Kalender von der 1949 gegründeten Internationalen Jugendbibliothek München (ijb), die sich dem kulturellen Austausch über alle (Landes-)Grenzen hinweg verpflichtet fühlt. Und damit ist der vorliegende Kalender ein geradezu mustergültiges Beispiel einer gelungenen Öffentlichkeitsarbeit. Welch' ein Luxus, aus der weltweit größten Sammlung nationaler und internationaler Kinder- und Jugendliteratur schöpfen zu können! (Immerhin verfügt die ijb über einem Bestand von gut 600.000 Medieneinheiten in mehr als 130 Sprachen und aus vier Jahrhunderten.) Doch wir kennen es aus unserer Vereinsarbeit: alles Engagement nützt wenig ohne einen starken Partner. Ein Glücksfall also, dass die beiden Verlegerinnen Elisabeth Raabe und Regina Vitali vom Arche Kalender Verlag für die Idee zu begeistern waren.
Zu wünschen ist, dass dieser Kalender möglichst viele Kinderzimmer schmücken und sich in der Perspektive so langfristig etablieren wird wie der Arche Literatur Kalender.
Synke Vollring
Unter allen Mitgliedern der Lyrikgesellschaft wird ein Exemplar dieses Kalenders verlost.
Arche Kinder Kalender 2016: 60 Blätter / 53 Gedichte und Bilder aus der ganzen Welt;
hrsg. und ausgew. von der Jugendbibliothek München, ISBN 978-3-0347-7016-3, Format 33 × 30,5 cm, Preis € 18.- / sFr.22.90
ISBN 978-3-0347-7016-3
www.arche-kalender-verlag.com
November 2015
"Gedankenreisen gerichtet in die Zukunft" -
Wolfgang Rischers neuer Gedichtband "Mein Quantum der Geschichte"
Von Franziska Röchter
"Quantum" ist im Bereich der Betriebssysteme ein Synonym für Zeitschlitz (Zeitabschnitt von fester Länge). So sind Wolfgang Rischers 60 Gedichte (1980-2015) mit Zeichnungen von Bettina Akinro Zeugnis eines bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitts, der ihn offenkundig besonders beeinflusst hat. Bereits das erste Gedicht "Der Aufbau einer Person" stimmt auf W. Rischers Grundhaltung ein: "Sich stemmen gegen den Sog, der alles milchig & fern werden läßt".
Worum es Rischer geht, gibt bereits die erste Illustration "Doppelportrait, digital", Pendant zum Text "Anbindung", vor: Der Mensch an einer nur auf den ersten Blick immer länger werdenden, von ihm selbst "gestrickten" Leine, die nur vermeintlich Freiheit bedeutet, durch das Aufbrauchen des Strickgarns gleichzeitig aber immer kürzer wird. Die Illustration "Die Dömitzer Brücke", die, zwischen 1934 und 1936 erbaut, Ost und West verbinden sollte und im April 1945 durch Jagdbomber zerstört wurde, verdeutlicht ein weiteres Themenspektrum des Bandes ("Halt aneinander finden gegen den Tod, der unwiderruflich in uns wächst"): "Die Zeit ist ein Tropfen", die Vergangenheit ist allgegenwärtig und lebendig und existiert in uns weiter, die "Erosionen der Jahre" hinterlassen Spuren, doch Erlebnisse haben kein Verfallsdatum, für den Erlebenden existieren sie gegenwärtig, oftmals "für einen winzigen Augenblick / der alles enthält", im "dunklen Winkel deines Kopfes", in der "Ruine Erinnerung".
In den Gedichten des 1935 in Hamburg geborenen Lyrikers und studierten Pädagogen wird der eigenen Vergänglichkeit, dem Erinnern, dem Gedächtnis ("wieder / bin ich für Momente nur / mir selbst auf der Spur"), aber auch dem Vergessen ("VERGISS, WAS DU GESEHEN HAST" = hier: den aufgenähten gelben Stern) vs. Nichtvergessen-Können (das Illustriertenbild mit Bergen von "Schuhen gelagert im Lager hinter Stacheldraht") u.a. am Beispiel der greisen und hinfälligen Großmutter nachgespürt ("gemeinsam durchlaufen wir die Trümmerjahre"):
"das Billet
liegt schon bereit, nur die Abfahrt
bleibt noch im Ungewissen"
Sie mahnen, trotz der unter einer "Glasglocke" bewahrten Vergangenheit kein Gras über die Erinnerungen wachsen zu lassen und sind gleichzeitig durchaus eine Liebeserklärung an eine noch entschleunigte Zeit vor dem Hintergrund des Zusammenwachsens deutsch-deutscher Grenzen, an Menschen aus dieser Zeit sowie - trotz der "Einbahnstraße" der menschlich-biologischen Natur - "ein Feuerwerk poetischer Pointen" auf das Leben mit - in der zweiten Hälfte des Bandes - sorgenvoll gerichtetem Blick des mahnenden Dichters auf den menschlichen Raubbau an der Erde.
Spuren
Sonntagmorgen, der Kindergarten
geschlossen
Klettergerüste Balkenwippe
Schaukel. Kein Kind
Doch aufgewühlt der weiße
Sand, frisch die Spuren unter
der Wippe, von Kinderschuhen
gelaufen die Schaukelrinne
So viel Leben im Leblosen!
Meine alten Knochen -
laß ich sie
sich hüpfend erinnern?
Wolfgang Rischer, "Mein Quantum der Geschichte", Gedichte
96 Seiten, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben, 2015
ISBN 978-3-862891-07-8, EURO 14,99
Oktober 2015
Ein ganz eigenes Leipzig-Porträt
Ein außergewöhnliches Buch verdient besondere Aufmerksamkeit: Ein Stadtporträt entlang der Lebenserinnerungen eines immer wieder überraschenden Poeten: Ralph Grüneberger. Der gebürtige Leipziger atmet seine Stadt seit mehr als 60 Jahren, in denen ihn das Leben beruflich "erdete" und dann seiner Besessenheit für Literatur folgte. Heute ist er als erfolgreicher, vielseitig geprägter Schriftsteller ein überaus ideenreicher und effizienter Motor des literarischen Lebens in dieser Stadt und weit darüber hinaus. "Wo ich zu Hause bin" ist der Titel eines kleinen Zyklus innerhalb der 46 Gedichte, in denen sich ein Leben in poetischen Momentaufnahmen und ebenso genauen wie sinnlichen Erinnerungen ausbreitet:
"Ich bin in einer Buchstadt zu Hause.
In der Stadtbücherei steht neben der Tür
Mit dem H für Herren Literatur
Von Hesse, Hein und Heine, auch Hilbig
Wolfgang.
Ich wünschte, sie wären ausgeliehen, die
Bücher"
Ich kenne und schätze Ralph Grüneberger aus den Tagen des "Mauerfalls", von dem er - und einige Autorenkollegen aus der DDR - auf einer "Literaturmission" in Dortmund überrascht wurde. Und ich kenne ihn als profilierten, eigen-sprachigen Lyriker und Initiator, der ein bedeutendes Poeten-Netzwerk gesponnen hat, das in der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik viele namhafte Autoren aus dem ganzen deutschen Sprachraum zusammenbindet.
Es bedarf wohl dieses komplexen biografischen Hintergrundes, um eine Preziöse entstehen zu lassen, die ein so eigen-williges Stadtporträt
aus den Erinnerungsblasen unendlicher Betroffenheiten hervorbringt.
Das Titelgedicht "Mit Mick Jagger in Plagwitz" ist eine Metapher für eine neue Epoche, ein neues Lebensgefühl, eine veränderte Kultursicht:
Vom Kanal, der einen Strich zieht
Durch die Landschaft
Im dicken Wasser wächst eine Single
Der Hit der Woche
Steigt im Radio.
Wir hören die Batterien runter.
Kinder von Rosa und Radio Luxemburg
Nicht mehr zu überhören, unsere Lautsprecher
Wir sitzen an den Knöpfen, drehen auf
Ein halbes Jahrhundert in kleinen präzisen Episoden und unpathetischen Beschreibungen der Straßen, Hausnummern, verblichenen Klingelschilder. Und der Autor rück- und vor-sichtig inmitten dieser großartigen KulturStadtschaft, mit der sich so unendlich viele große Namen und Legenden verbinden. Doch
"die Chronik ist kein Ruhmesblatt
Hörige waren beliebter denn Hörende"
Grünebergers Gedankenlinien sind nicht parcelliert, einem Strophenverlauf oder einer Textstruktur untergeordnet. Seine Sprache ist genau, schnörkellos und doch voller überraschender Verknüpfungen und - bisweilen melancholischer - Schwingungen. Ein Autor in einer Stadt, die Maßstäbe setzt, die er seit langem bestätigt.
"11 Uhr 11 kommen die literarischen Gestalten
Aus ihren Büros und verteilen sich an die Tische […]
Vorsichtig falten sie ihre Beine und greifen
Sich Brüche in ihre Jeans. Dann reden sie
Laut über ihre verbotenen Bücher
Die sie einmal schreiben wollen …"
Atempausen schaffen einige Zeichnungen eines Leipziger Künstlers, der mehr Aufmerksamkeit verdienen würde: Heinz Müller (1924-2007). Motive aus seinem Nachlass skizzieren Stadt-Räume, Straßen, Treppen,
Einblicke.
Ein ganz besonderer "Stadtführer", der mich begleiten wird ...
Dieter Treeck
Ralph Grüneberger: "Mit Mick Jagger in Plagwitz. Leipzig-Gedichte",
mit Zeichnungen von Heinz Müller, 66 Seiten, broschiert, Edition kunst& dichtung, Leipzig, 2015, 12,90 €
Buchpremiere am 15. Oktober 2015 in der Stadtbibliothek Leipzig, Beginn 19 Uhr, Eintritt frei
Lesung mit Musik, zu hören sind Ausschnitte aus dem "Leipziger Liederbuch" von 1985
September 2015
Sarah Kirsch"Ænglisch"
"Ænglisch" ist der letzte Band, den Sarah Kirsch noch selbst ediert hat. Er erschien im Frühjahr 2015. Sarah Kirsch hatte schon mehrere Lese-Reisen nach England unternommen und dort die Goethe-Institute besucht. Ihr Sohn Moritz war oft ihr vertrauter Reisegefährte, bevor sie im Jahre 2000 zusammen nach Cornwall und Devon reisten. Diese gemeinsame Reise hat Moritz Kirsch geplant und vorbereitet. Während ihres ganzen Lebens hat Sarah Kirsch Tagebuch geführt. So auch auf dieser Reise und aus diesen handschriftlichen Aufzeichnungen entstand das vorliegende Reisebuch.
Sarah Kirsch wäre am 16. April dieses Jahres 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass stellte ihr Sohn Moritz diesen Band aus ihrem literarischen Nachlass, dessen Verwalter er ist, auf einer Lesereise vor. Die dänische Schreibweise des Titels weist nach einem ersten Blick auf das Cover sofort auf eine sprachliche Eigenart von Sarah Kirsch hin: die sensible Lyrikerin und Malerin verstand es, mit der Sprache zu spielen. Ihr gefiel die Ästhetik des Buchstabens. Die Eigenwilligkeit ihrer Ausdrucksweise und auch die Umgehung von Rechtschreibregeln wecken die Assoziation "Lautschrift" und erinnern an Arno Schmidt. Peter Hacks sprach vom "Sarah-Sound". Dieser Neigung folgen die Datumsangaben, so wird aus Mittwoch "Mistwoch" und aus Samstag "Sams" oder aus Sonntag "Sonnentach". Und berlinerisch heißt es vom Hotel in Harwich, es sei "kleen".
Sarah Kirsch und ihr Sohn stimmen sich auf der Überfahrt von Hamburg nach Harwich auf ihr südenglisches Reiseziel ein. Er liest und sie nimmt die Umgebung in sich auf. Die Zeitumstellung spielt keine Rolle, sie "hängt ihr am Ärmel". Kirsch beobachtet die Natur genau, sieht, dass "die Bäume immer mutiger werden", empfindet, dass das Klima ein anderes ist. Die Farben beschreibt sie mit der ihr eigenen klangvollen sprachlichen Raffinesse. So erscheint ihr das Meer mal als "seidenblaugraues Wasser hübsch gekräuselt" und dann wieder elegant und unnahbar wie "schwarzer Lack", auf dem sie ein "silberweißes Spitzengrau" wahrnimmt. Zugleich kann die See ganz wunderbar "asphaltgrauschwarz" aussehen, während nachts der Ozean für sie "eine Landschaft mit Bergen und Tälern" ist. Im Blau des Himmels vermutet sie eine menschliche Eigenart, es ist "trügerisch". Und doch kriecht "aus hellgrauen perlmuttrigen Wolken" die Sonne hervor. Man spürt, wie sehr Kirsch die Reise mit Moses, wie sie ihren Sohn Moritz nennt, an alte, vergangene Zeiten erinnert und wie sehr sie das genießt. Sie nimmt die südenglische Parklandschaft in sich auf, bewundert die Natur und beobachtet scharf die Menschen. Als sie auf dem Rückweg nach Harwich den Anschlusszug verpassen, liefert Kirsch eine freundliche Charakterisierung der Briten, indem sie lakonisch notiert, der Zug ist weg, "weil diese exzentrischen Briten mal wieder Zugverfrühung machten. Kannte ich von 1993 ja schon". Zugleich freut sie sich über "sehr verzauberte kleene Häuserken und gloriose Gärten", "trödelt auf dem Flohmarkt Schuhe" und bemerkt, "ein Haus ist dahin und schon Parkplatz geworden".
Sarah Kirsch hat ein großes literarisches Werk hinterlassen. Neben ihren zahlreichen Lyrikbänden und Prosatexten steht die "Tagebuchprosa". Dieses Reisebuches und nimmt einen besonderen Platz ein. Es muss nicht interpretiert werden wie ein Gedicht, es bringt uns die Literatin und den Menschen Sarah Kirsch sehr nah. Wir gehen mit ihr auf Reisen und erleben ganz intensiv die Landschaft Südenglands. Zudem enthält der sehr kunstvoll gestaltete Band persönliche Fotos und Faksimile-Seiten aus ihrem Originaltagebuch.
Anne Bruhn
Sarah Kirsch, "Ænglisch", Prosa, 96 Seiten mit Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag, € 19,99,
Deutsche Verlagsanstalt, München 2015
August 2015
Christoph Meckels Sammlung"Tarnkappe"
Insgesamt 29 Lyrikbände präsentierte Christoph Meckel seit 1956. Den Inhalt all dieser Editionen vereinen die jetzt erschienenen "Gesammelten Gedichte". In der "Ausgabe letzter Hand" finden sich auch programmatische Verse, die das generelle Verständnis des Autors von Poesie dokumentieren: "Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird./ Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden./ Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen./ Von Vaterländern, die eisernen Schuhen gleichen./ Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird. / Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird. / Das Gedicht ist der Ort der zu Tode verwundeten Wahrheit."
Für Meckels Lyrik begeistert sich indes nur ein kleines Publikum. Was Wunder, dass er in seinen Texten oft als apokalyptischer Reiter daherkommt. Seine Geschichten sind häufig Parabeln auf die gefährdete Hochkultur, auf das drohende Scheitern der abendländischen Zivilisation. Das spiegelt sich schon in Überschriften wie "Abraum" oder "Die Ruine des Präsidentenpalastes" wider. Der Leser gerät bei Meckel in eine Sphäre der Verwüstung, die an die "Zone" in Andrej Tarkowskijs Film "Stalker" erinnert. Seine Visionen drehen sich um die Rettung der nackten Existenz, um die Flucht vor der desaströsen Zerstörung. Thematisch hängen solche Unheil verkündenden Miniaturen eng mit seinen Romanen "Die Messingstadt" und "Shalamuns Papiere" zusammen, in denen er eine von Atombomben zerstörte Megacity heraufbeschwor.
Trotz des quälenden Pessimismus und der Endzeitstimmung, die derartig beklemmende Halluzinationen des Verderbens ausstrahlen, bewegt sich der Autor darin ästhetisch auf Topniveau. Obwohl er mit zirka 100 veröffentlichten Büchern als Vielschreiber gilt, erlaubt er sich keine Schnoddrigkeiten. Seine Grammatik wirkt ausgefeilt, das Vokabular zehrt von eindringlichen Metaphern. Viele seiner epischen Experimente erweisen sich als stilistisch betörende Variationen auf Abstieg und Verfall, in denen die Worte leuchten wie Symbole.
Melancholie zählte von Beginn an zu den Grundelementen von Meckels Schaffen. Bereits sein Einstieg in die Literaturszene war von einer Neigung zu Nihilismus und Schwermut überschattet. In einer seiner frühen Strophen heißt es: "Ich lebe in einem Land, das verliebt ist in den Tod, / ein Tränenkrug ist sein Wappen und Souvenir, / ein Blutegel sein Maskottchen, seine Fahnen Vogelscheuchen, / der tausendste Enkel meiner Hoffnung kam um. / Der letzte Schild meiner Zuversicht ist zerborsten." Das Gefühl der Unbehaustheit und Verlorenheit, das sich in diesen Zeilen Bahn brach, erlosch danach nie mehr. Meckel fügte sich dem Drang zu Rastlosigkeit. Er wohnte auf Korsika und in der Toskana. Er reiste in die USA, nach Afrika und in den Nahen Osten. Bis heute blieben Unstetigkeit und Getriebenheit die Motoren, die seine Produktivität anfachen.
Ulf Heise
Christoph Meckel: Tarnkappe. Gesammelte Gedichte.
Hanser Verlag 2015, 960 S., 34,90 Euro
Juli 2015
Dieter Treeck: Ich habe noch ein Bein von Dir ...
Kennengelernt hab ich Dieter Treeck auf Tagungen der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, deren aktives Mitglied er ist. Das ist schon Grund genug, ihn, der in seiner Ruhrgebietsheimat ein umtriebiger Künstler ist, auch in Sachsen ein wenig bekannter zu machen. In seiner Heimatstadt Dortmund oder in Bergkamen, wo er fast 20 Jahre Kulturdezernent war, Mitbegründer des westfälischen Literaturbüros wurde, startete er vielerlei Projekte. Bei einem wie Dieter Treeck bleibt nicht immer Zeit für das eigene Schreiben, umso verwunderlicher ist die Breite seiner künstlerischen Unternehmungen, die ihn offensichtlich jung bleiben lassen. Er ist Erzähler, Lyriker , Hörfunk- und Kinderbuchautor, Kunstkritiker und Autor von kulturpolitischen Beiträgen, Essays sowie Doku-Filmdrehbüchern.
2015 hat er ein Büchlein vorgelegt, das "Poesie des Alltags" enthält - so lautet der Untertitel. Der Haupttitel dagegen schockiert erst einmal, denn da wird jemand zitiert, der behauptet, er habe noch ein Bein von ihr … Es wird nicht das der Schauspielerin und Chansonsängerin Kriszti Kiss sein, seiner aus Ungarn stammenden Lebensgefährtin, denn sie steht ja - ab und an auch mit ihm gemeinsam - auf der Bühne und performt seine kabarettistischen und satirischen Texte - so erst unlängst im "Marktcafé" in Zwickau geschehen. Dabei spürte man, wie die Texte Treecks durch den lebendigen Vortrag auch noch hinzugewinnen und bestens unterhalten können.
Viele der Texte aus dem hier betrachteten Buch, sind Chansons und Couplets für Kriszti Kiss, aber auch andere Texte aus zwanzig zurückliegenden Jahren sind hier zusammengestellt: Verssatiren; Gedichte über Ungarn und einige Nachdichtungen ungarischer Kabarettchansons; poetische Alltagsnotizen, die Spontangedichte sind und sich einem mail-Wechsel mit einem inzwischen verstorbenen Freund verdanken; schließlich ein paar Gedichte, die mit Blick auf die Jahre des Alterns entstanden.
Möglicherweise ist die Konzeption für das 140-Seiten-Buch etwas überfrachtet: Chansontexte und -noten o d e r Texte für die Ungarin, über Ungarn, von Ungarn (die ich so noch nie gelesen habe!) o d e r die "poetischen Alltagsnotizen" mit den Gegenantworten des mail-Partners … sind nur ein paar Editionsvarianten, die auf der Hand liegen. Das hätten drei und mehr Büchlein werden können.
Altern ist nur ein Thema, andere, auch variierte Themen sind Beziehungsgeschichten vom ersten Herzstich bis zur "Entsorgung" des/der einstmals Geliebten, überfüllte Handtaschen und Verschlankungsabsichten, Ortsberichte aus dem Revier und vom Bahnhofsklo ... Natürlich darf es in kabarettistischen Texten auch mal kalauern, der Rhythmus mal von seiner klassischen, meist jambischen Gradlinigkeit abweichen oder ein Reim zurechtgedrechselt werden. Vorzüge, ja besondere individuelle Stärken der Texte Dieter Treecks sind aber die Wort- und Lautspiele, die mehrfach genutzten Wechselreden, zwischen "ihr" und "ihm" oder auch mit dem Publikum und ein wahrhaft überraschender Einfallsreichtum in den Reimen und Pointen. Strophen und Verse changieren zwischen frivol und makaber, zwischen heiter und satirisch und sind wie gesagt deutlich Vortragstexte. Nicht nur bei den Refrains kann man sich die Singbarkeit der Texte gut vorstellen.
Zuweilen erinnern sie an Erich Kästner, an Georg Kreisler oder Loriot. Das besonders dann, wenn in ihnen eine Sprecherfigur sich in Wut redet, weil das Gegenüber sich so deplaziert verhält, dass sich das Empörtsein in der Phantasie bis zu Tötungsabsichten und ihre Ausführung steigert. Das geschieht immerhin in vier Texten und das Bein im Kühlschrank ist nur die Ausbeute eines der Aktionen. Übrigens singt ja Kriszti Kiss davon, da wird es am Ende das Bein von "ihm" sein!
Schwarzer Humor, an dem man seine Freude haben kann, weil er gekonnt serviert wird und in seiner Bissigkeit doch viele Alltäglichkeiten poetisch gestaltet - wie es sie im Ruhrgebiet wie in Sachsen gibt.
Monika Hähnel
Dieter Treeck
Rückblick nach vorn
Selbstverloren rückgesichtet
manchen Schnaps dabei vernichtet
turmhoch Frust um Frust geschichtet
meinen Blackout neu belichtet
auf den Traum vom Ruhm verzichtet
einen halben Mond bedichtet
Dann den Blick nach vorn gerichtet
und die Ziele neu gewichtet
Dieter Treeck: "Ich habe noch ein Bein von Dir..." Chansons, Couplets, Vers-Satiren. Poesie des Alltags.
Brockmeyer Verlag, Bochum 2015. ISBN 978-3-8196-0980-0.
Juni 2015
Hans-Ulrich Möhring: Ausgetickt - Ein Exzess
Emily Dickinsons Lyrik lernte ich kennen, als ich eine Zeitlang dort wohnte, wo sie von 1830 bis 1886 gelebt hatte. Amherst im westlichen Massachusetts ist ein Collegestädtchen, das auch vom Ruhm dieser Frau zehrt. Nichts könnte ihr fremder sein als solcher Ruhm oder gar ein Haus, das zum Museum wurde. Ja, noch der Grabstein auf dem Friedhof wäre ihr fremd, Anlass vieler Fragezeichen. Dickinsons Haus kann man heute besichtigen und sich daran erinnern, welch geisterhafte Existenz diese Dichterin führte, die sich - unverheiratet - bald nur noch auf Haus und Garten beschränkte. Nur sieben Gedichte erschienen zu Lebzeiten, über 1700 kamen erst nach ihrem Tod an die Öffentlichkeit.
Man hat die kurzen Texte, die oft auf Einkaufszetteln oder Briefumschlägen notiert waren, als amerikanische Haikus bezeichnet, man sah in ihnen fernöstliche Philosophie, Feminismus, Atheismus, Mystik, tiefsten Glauben, höchste Ironie und was sonst noch. Nehmen wir sie lieber als rätselhafte Spiegel für die Lesenden. Sie liebte den Gedankenstrich, die plötzliche Großschreibung, sie war dem Blitz verschwistert wie der Witz, immer auf der Flucht: "True poems flee" - "Wahre Gedichte fliehen".
Die Flucht ihrer Wörter (vor den neugierigen Zugriffen der Interpreten) läßt sich eindringlich verfolgen in der Novelle: Ausgetickt - Ein Exzess, von Hans-Ulrich Möhring. Es ist in der liebevoll aufgemachten Edition Rugerup erschienen, die sich weitgehend auf Lyrik spezialisiert hat. Banal zunächst: Ein Übersetzer hat ein Übersetzungsproblem. Eine Fantasy-Autorin, die er gerade überträgt, hat als Motto ein Gedicht von Emily Dickinson gewählt ("A Clock stopped"). Dem Erzähler stehen zwei Übersetzungen ihrer Gedichte zur Verfügung - welche Version soll er wählen? Das Gedicht über eine Uhr, die um Mittag stoppt, ist rätselhaft (wie die meisten ihrer Gedichte), er möchte auch den Zusammenhang mit dem Roman erkennen. Die Autorin kann ihm nicht weiterhelfen, sie hatte nur so ein Bauchgefühl bei der Auswahl des Mottos.
Die Recherche führt ihn jedoch zurück zu einer alten Freundin, die in einem Bauwagen an der Schlei wohnt. Diese Sylvie hatte ihn in seinen Studientagen fasziniert - Weltreisende, Punkerin, Dichterin, die aber nicht in die Literaturszene wollte. Über Dickinson hatten sie sich einst schon unterhalten, aber die Zeit war nicht reif gewesen. Jetzt ist sie es. So führt ein denkwürdiger Besuch des Übersetzers bei Sylvie zu einer ausgedehnten Reise in die Welten der Wörter und die Biographie von Emily Dickinson, und verflicht sich dabei mit den Lebensläufen der beiden. Über allem steht die Frage nach der Uhr, die nicht mehr geht. Eine wunderbare Annäherung an ein Rätsel, das aus dem Scheitern an einem Text eine andere Art des Gelingens macht: nämlich zu ergründen, warum wir immer noch dichten, wozu Gedichte gut sind und das Übersetzen, wie es in den Gedichten dieser Emily Dickinson 'getickt' hat; dazu ist es eine verhaltene Liebesgeschichte.
Am Ende wird Sylvie ihre eigene Übersetzung vorlegen:
Elmar Schenkel
Hans-Ulrich Möhring
Ausgetickt -
Hat ein Uhrwerk -
Die höchste Genfer Kunst
Macht nicht das Püppchen gangbar -
Das ausgespielt hat - just -
Ein Schauder packt' das Kleinod!
Die Ziffern - schmerzverdreht -
Entzitterten den Stellen -
In Maßlosen Zenit -
Nicht tickt's um Doktors willen -
Das schneeige Pendelein -
Der Handelsmann beschwört es -
Doch kühl, ungerührt - Nein -
Starrt's von den Goldnen Zeigern -
Starrt's vom Sekundenstehn -
Abweisung von Jahrzehnten zwischen
Dem Uhrleben -
Und Ihm -
Hans-Ulrich Möhring, "Ausgetickt - Ein Exzess", Novelle,
Edition Rugerup, 96 S., ISBN 978-942955-47-8
Mai 2015
Daniela Danz: "V"
In ihrem zweiten Gedichtband spürt Daniela Danz (geb. 1976) Momenten des zeitgeschichtlichen Umschlags bzw. Sich-Herausbildens neuer Verhältnisse nach - und hinterfragt die Folgen solcher "Wende", in der sich Zeit und Raum verändern. Dabei versucht sie das Thema "V" gleich "Vaterland" in seiner zeitgeschichtlich-politischen Dimension zu verorten, doch auch in seiner mit dem Begriff "Heimat" verknüpften Bedeutung. Sie richtet den Blick insbesondere auf die mitteldeutsche Landschaft und Geschichte, handelt das Thema "Vaterland" bzw. "Heimat" dort gleichsam exemplarisch ab, doch blickt auch, darüber hinaus, auf das heutige, globalisierte Europa und die Welt. Charakteristischerweise erfolgt ein Überblenden der Zeiten; frühere und jüngere Vergangenheit überlagern sich, münden wiederum in die Gegenwart des Gedichts. Dabei wird die Widersprüchlichkeit des zeitgeschichtlichen Status quo in allen Facetten herausgestellt.
Legt die Autorin ihrer Darstellung die Ansicht zugrunde, dass im Gegenwärtigen Früheres, wenngleich modifiziert, wiederkehrt, so greift sie entsprechend auf archaisch anmutende Wendungen und (Ur-)bilder zurück, etwa die von Jagd oder Opferung. Neben verschiedenen - oft zu Opfern werdenden - Tieren erscheinen typisierte menschliche Handlungsträger, deren Agieren nachgezeichnet ist. Dadurch wird das Geschehen zeitgeschichtlicher Wandlung, werden Veränderungs- und Differenzierungsprozesse symbolisch nachvollziehbar, und zwar als Herauswachsen aus einer mythisch anmutenden Gemeinschaft; als Arbeitsteilung und Bevorrechtigung Einzelner, was zu Willkür und Machtausübung führt; Verletzungen (im realen und übertragenen Sinne), Not und Verwilderung mit sich bringt. Die Möglichkeit des Wiedergewinns der verloren Einheit auf höherer Stufe rückt jedoch in den Blick.
Schließlich finden in dem Band eine Reihe von "Dohlen"-Gedichte ihren Platz. Sie formieren sich zum Zyklus, in dem überwiegend der Verlust von Grenzen, der einhergehende Gewinn an "Raum" und das Erfordernis, diesen zu gestalten, zur Sprache gelangen.
Mit dem Motiv der (gefallenen) Grenze werden auch die Themen Verantwortung, Schuld und mögliche Strafe in Beziehung gebracht und spielt die Dichterin in abermals symbolischer Überhöhung Varianten durch, sich zum Vaterland zu verhalten. Dabei erscheint als gültige Alternative zur unfreien Sicherheit einerseits und zur ungesicherten Freiheit andererseits die "Pflicht" zur Selbstverantwortung, einschließlich des Vermögens, Opfer bringen zu können - womit dieser Begriff eine Modifizierung erfährt.
In dem letzten Gedicht des Bandes ("Frohe Zukunft") erfolgt die lyrische Zurücknahme der Liebe zur Stadt Halle, synonym für das "Alte"; das, was vormals "Heimat" war - und Danz schließt ihre Bestandsaufnahme ab mit dem Bekenntnis: "[...] und jetzt will ich den Staat loben / in dem ich den Ort zu leben wählen kann."
Marianne Beese
Daniela Danz
STUNDE NULL: LOOP
Die Linde hat all ihre Blätter verloren
und vom Sommer blieb nichts als
der Wunsch dem alten Deutschland
noch einmal den Kopf zu kraulen
und zu versprechen dass seine Enkel
sich besser erinnern werden - was nützt
ein Gedicht wo die anwachsenden
Berge der Dinge zum Jodeln zwingen
Daniela Danz: V. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1377-4
April 2015
Dir ein Leben ohne Leid
Wondratscheks gesammelte Gedichte an seinen Sohn
Wolf Wondratschek, 1943 in Thüringen geboren, in Karlsruhe aufgewachsen, in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main Student gewesen, ist als namhafter Autor von Lyrik, Prosa und Hörspielen in München und Wien zu Hause. Bekannt wurde Wondratschek als einer, dessen Gedichte nicht selten Filmskripten ähneln, und als Pionier der Eigenvermarktung, obgleich er das auf Dauer nicht durchhalten konnte. Jetzt kehrt er gewissermaßen zwiefach an seine Ausgangsposition zurück, indem er seinen Gedichtzyklus der kleinen, aber feinen Edition Ornament im Thüringer quartus-Verlag anvertraute, namentlich Jens-Fietje Dwars, dem Spiritus rector der an Kurt Wolff geschulten bibliophilen Reihe. Auffällig ist, dass Wondratscheks "Roaulito-Gedichte" mit dem Wunschtitel "For a Life without a Dentist" hier fadengeheftet und "Außer der Reihe" erscheinen und nicht der sonstigen Zählung folgen. Der Titel des Bändchens, der einem spätesten bei dem Gedicht "Raoulito zum 19. Geburtstag" als Verheißung einleuchtet ("Gesund leben. Kein Zucker. […] Überhaupt kein Zucker. Nicht / in Büchern, in Bildern, in Gesprächen […]"), ist dem naiven Ölgemälde von Martin Kippenberger entlehnt, das sich im Internet betrachten lässt.
Den Tag, als er kurz vor seinem 48. Geburtstag Vater geworden ist, erinnert Wondratschek im wahren Leben so: "wie du mich, als Beweis, / dass du mein Sohn bist, voll gepinkelt hast. / Das war neu für mich, meine erste Berührung / mit einem Leben als Vater" ("Die Sonnenblume"). Ihm folgen berührende Verse wie die vom schlaf-trunkenden Jungen im "Nachtbus" oder die Erkenntnis, dem Stoiker im Kinde nicht gewachsen zu sein ("Schwarz"), oder die, dass die alten Geschichten, will man sie dem Nachwuchs servieren, plötzlich verdammt lang her sind ("Was soll ich dir erzählen?").
Der erfolgreiche Vater spricht über Geld und rät dazu, dem Pekuniären nicht allzu viel Bedeutung zu schenken: "Geld? Ach, Geld! // Es ist nichts, es ist Papier […] Lass es nicht unter deine Haut. / Geld ist gut gegen Angst, macht aber / mit dem Ängstlichen, was es will." Mit anderen Worten: Etwas Geld in Lyrik anzulegen, nimmt auch etwas Angst - und gibt Hoffnung, wie bei diesen wohl nicht vergeblichen An-Sprachen an die nächste Generation.
In seiner Nachbemerkung, die der geübte Leser nicht erst liest, wenn er am Ende der Lektüre angekommen ist, klärt Wondratschek über seinen Schreib-Anlass auf. Beginnend mit einem Gelegenheitsgedicht hat er wieder und wieder Verse an seinen Sohn adressiert und diese dann zu bestimmten Anlässen bewusst geschrieben. Es sind Erinnerungen, Entdeckungen, Belehrungen. Die Verbindung zu Wondratscheks Alter Ego Chuck aus "Chuck's Zimmer" und "Das Geschenk" (beide bei dtv Hanser erschienen) scheint da gar nicht von ungefähr. Im "Geschenk" heißt es: "Es verging ein Jahr, bis Chuck zum ersten Mal überhaupt die Erlaubnis erhielt, den kleinen Kerl einmal übers Wochenende bei sich haben zu dürfen […]." Eine Sehnsucht, die sich auch in diesen Widmungsgedichten mitteilt.
Ralph Grüneberger
Wolf Wondratschek
Gebet zur Pubertät
Lieber Gott,
schick einen, der nicht redet,
wo so viel davon abhängt,
dass da einer ist,
dem er zuhört.
***
Raoulito zum 23. Geburtstag
Stell die Musik leiser,
dreh den Korken in die Flasche.
Das Fenster, ich bitt dich, lass offen.
Vielleicht verweht dich ein Wind,
hinaus und hinauf und trägt dich ein Stück
zu Dingen hin, die einfach sind.
Vor dem Einschlafen ein Blick zurück
auf die Erde, auf alles, was da ist,
auf alles Überflüssige.
Wolf Wondratschek, "For a Life without a Dentist. Roaulito-Gedichte",
einmalige numerierte Auflage von 444 Exemplaren,
Edition Ornament im quartus-Verlag Bucha bei Jena 2014,
ISBN 978-3-943768-33-6
März 2015
"Sich mischender Klang"
Ralph Grünebergers Sammlung "Gedichte von Welt" führt in Leipzigs Partnerstädte
Von Peter Gosse
Es belebt unsereinen, wenn - in dieser Zeit der DichtungsDämmerung - Pier Paolo Pasolini "Würze und Duft jener ... betroffenen Welt, die naiv sich verbraucht" vom Adria-Wind uns zutragen lässt oder Ivo Andric jene "Unruhe unserer Tage" vergegenwärtigt, da "wir uns schmerzlich sehnen, dieser Welt Schritte und Gedanken zu entheben". Ralph Grüneberger, selbst formidabler Dichter (unlängst vermerkte er zeitdiagnostisch zur Weihnacht: "X-Mas: Chromosom des Kommerz") - Grüneberger vermag es, der Deutschen Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik als deren Vorsitzender mit sympathischer Vitalität gutzutun. So veranstaltete er Lesungen in passagierreichen Straßenbahnen sowie in (es gibt sie noch, zumindest in Leipzig) Paternostern. Und: Man möchte nicht auskommen müssen ohne die Präsenz-Bibliothek der Weltdichtung am Leuschner-Platz - unweit des neuen monströsen Katholiken-Kirchbaus. Flaggschiff dieser Poeten-Sozietät ist "Poesiealbum neu", eine mittlerweile 20 Editionen umfassende Folge thematischer Anthologien, die - erfrischende Konkurrenz zum "Poesiealbum" aus Wilhelmshorst - dieser Tage mit "Gedichte von Welt. Leipzigs Partnerstädte" auf sich aufmerksam macht.
Womit werden wir - ja doch! - verwöhnt? Mit je einem Gedicht aus den vierzehn Partnerstädten, gelegen auf vier Kontinenten (zu den europäischen Verbundenen gesellen sich Nanjing in China, Addis Abeba in Äthiopien, Houston in den USA und das unlängst hinzugewonnene Herzliya in Israel; eine russische Partnerstadt fehlt leider): Diese Gedichte werden geboten in Originalsprache sowie - ehrenamtlich geleisteter - Eindeutschung. Förderlich die beigegebene CD: Die Nachdichtungen und weitgehend auch die Originale (!) finden sich gesprochen (vorzüglich: Axel Thielmann) und gerahmt von wohltuenden Musiken: "Massa" Großwig und Cosmic Love Project spielen. Perlen innerhalb des Verse-Konvolütchens: die besagten Pasolini und Andric, freilich Skácel; manch einen mag auch die mit einem Nobelpreis dekorierte Szymborska beeindrucken. Die Lyrikerin Joanna Skelt, die in ihrem, übrigens in Tansania (!) ersterschienen, Gedicht die "Schmelztiegel-Stadt" Birmingham beschreibt, schließt mit dem Lobpreis auf ein Jugendorchester, dessen "sich mischender Klang ... und Glitzern der Instrumente ... die Stadt zusammennäht zu geschmolzenem Gold". Reden wir nicht gleich von Gold - aber ein statthafter, ja anmutiger Versuch, ein Nähte-Filigran über Stadt- und Staatsgrenzen zu legen, steht uns jedenfalls ins Haus. Das mit bewundernswürdiger Rührigkeit zusammengetragene Opusculum, aus dessen orange-blauem Umschlag eine gleichsam sprühende Mischtechnik-Arbeit des Äthiopiers Solomon Wija hervorleuchtet, mag der Stadt Leipzig, in deren 1000. Geburtsjahr, beihelfen, nicht so sehr groß über sich zu denken als vielmehr groß über sich hinaus.
Poesiealbum neu: Gedichte von Welt. Leipzigs Partnerstädte.
Herausgegeben von Ralph Grüneberger. Edition Kunst & Dichtung, Leipzig.
32 S. m. Hörbuch, br., 10,80 €
Feuilleton, Neues Deutschland v. 26.2.15
Februar 2015
Passend zur Bundesliga-Rückrunde!
Ein Buch: Nicht nur für Fußballfans
Wer schon einmal versucht hat, Lyrik zu Sport oder gar zur männlichsten und verletzungsanfälligsten aller Sportarten, dem Fußball, zu finden, weiß, wie wenig Ergebnisse man dazu findet. Umso höher einzuschätzen ist, dass Michael Augustin, Jg. 1953, Autor, Übersetzer und Zeichner, Ko-Direktor des Internationalen Literaturfestivals Poetry on the Road in Bremen und Mitglied der GZL, uns hier ein lyrisches Büchlein in freundlichem rasengrün schenkt, welches die Chronologie und einige Randerscheinungen der vergangenen WM in Brasilien "in vierundvierzig poetischen Kurzpässen" enthält.
Entstanden sind die Gedichte bereits während der Weltmeisterschaft für den von Anton G. Leitner eingerichteten und von Jan-Eike Hornauer betreuten Blog "Vom Leder gezogen" (www.dasgedichtblog.de), in welchem zehn Dichter tagesaktuell die WM lyrisch kommentierten. Einige dieser Gedichte wurden auch bereits während des Turniers von Radio Bremen/NDR gesendet, für den Michael Augustin als Rundfunkredakteur und Autor tätig ist.
Wunderbar illustriert mit Spielerporträts wurde das Buch von Studierenden der Hochschule München / Fakultät Design und auf jeden Fall lobend zu erwähnen ist, dass das Nutzungshonorar dafür an Straßenkinder in São Paulo geht.
Geschrieben worden sind die Gedichte vor, während und nach den Spielen, weshalb einige auch prophetischer Natur sind. Sie sind kurz, prägnant und vor allem humoristisch, dabei aber auch zum Nachdenken anregend. Es macht großen Spaß, DAS Ereignis des vorigen Sommers auf diese Art und Weise über Vorrunde, Achtel-, Viertel- und Halbfinale bis hin zum Finale nochmals Revue passieren zu lassen, wobei sich Augustin natürlich nicht nur auf die Spiele der deutschen Mannschaft beschränkt, sondern das gesamte Turnier beleuchtet. Und für alle, die die Ereignisse im Kopf nicht mehr ganz so parat haben, gibt es kleine Anmerkungen.
Man merkt den Texten den großen Sachverstand des Autors an, der, wen wundert's, natürlich selbst von Kindesbeinen an großer Fußballfan ist.
Aber auch Gedichte zu Randerscheinungen, wie "Rat für Schlachtenbummler" oder "Heute leider spielfrei" sind durchaus mit großem Vergnügen zu lesen.
Fernsehpause
Schön ist's
ohne das Geschwöfel
von dem Smartie Opdenhövel.
Herrlich kann
das Leben sein
ohne Frau M.-Hohenstein.
Ohne Welke,
Kahn und Scholl:
prima Abend, richtig toll!
Doch ist's
irgendwie auch dööf
ohne das Gewäsch von Löw.
Paradoxon
Obwohl bisher
bei jedem unsrer Spiele
ein Neuer im Kasten stand,
brauchten wir doch nur
einen einzigen Torwart
Eines der kürzesten Gedichte gibt es am Ende zum gewonnenen WM-Finale der Deutschen. Das ist, nach der im vorigen Sommer stattgefundenen Euphorie und Hysterie, sehr wohltuend und wirkt, so wunderbar auf den Punkt gebracht, fast schon prosaisch. Schade nur, dass diese "Pointe" so zeitig vorweg genommen wird.
Ein gern empfohlenes Lesevergnügen, nicht nur für eingefleischte Fußballfans!
Kerstin Tronicke
Michael Augustin, Schweini blutet - Deutschland tutet. WM-Gedichte
ISBN 978-3-7307-0183-6, 61 S., Verlag Die Werkstatt 2014, 8,90 €
Januar 2015
Humor-Granate mit Tiefenzündung
Alex Dreppec hat seine zweite Gedichtsammlung verlegen lassen - mit Zündpotential. Denn obwohl er einer der ganz Großen im Bereich Humor, Witz, Blödelei und Pointe ist und sein 2004 gewonnener Wilhelm-Busch-Preis dieses dokumentiert, so sind viele seiner Gedichte keineswegs nur auf den schnellen Gag aus. Sein Titelgedicht "Glasaugenstern" z.B. hat schon zum Bersten gefüllte Poetry-Slam-Hallen zum Brüllen gebracht, ist aber nicht nur ein lustiges Gedicht. Diese Ambivalenz in den Texten Dreppec' verursacht einen befriedigenden Lesegenuss, der noch nach dem Schmunzeln anhält.
Der Humor Dreppec' begründet sich keineswegs nur in seiner bis zur Perfektion getriebenen Alliterationswut à la "Devoter Despot". Seine Gedichte sind oftmals kongeniale Zungenbrecher, Schüttelreimansammlungen und strotzen von Neuschöpfungen (s. "Querulandschaftsbild"). Oder es ist vom "enthunzen", von "Schwallmauern", vom "bewachteln" und "dorschhalten" die Rede. Durch die Vorliebe des Autors für Reimereien eignen sich die Gedichte hervorragend dazu, Schülern den Spaß an klingenden, rhythmischen und intelligenten Gedichten zu vermitteln. Jedoch kann Alex Dreppec auch anders, ernster (s. z.B. "Die Nachhut der Passanten" u.v.v.m.).
Wovon schreibt der Autor? Kurz sei verraten: von der Liebe, der Gesellschaft, von Tieren, Jauche, er schreibt Philosophisches, vom Tod und vielem mehr.
Seit längerem schon betreibt Alex Dreppec das Verfassen englischsprachiger Gedichte bzw. freier Übersetzungen seiner deutschsprachigen Textgranaten. Sein herausforderndes Paradebeispiel "Inky Interchange" finden wir auch im Buch. Wie auch Kürzestgedichte, die als Untertitel für comicähnliche Zeichnungen von Axel Röthemeyer dienen, die neben Nicola Kochs wundervollen Linolschnitten, Eva Simone Scheuermanns Illustrationen und flotten Zeichnungen des Autors selbst den Band zieren.
Fazit: Ein absolutes Must-Have für genussfreundliche Rezipienten mit Lust auf Spaß inklusive Anspruch.
Franziska Röchter
Alex Dreppec
Die Frage ist
Hättest Du am Kragen haben können
woran ich Dir wollte?
Hätte ich im Urin haben können
was das nun sollte?
Hättest Du entspinnen können sollen
was Du entspannst?
Hättest Du können wollen sollen
was Du mich mal kannst?
Alex Dreppec, Glasaugenstern - 101 Gedichte von Alex Dreppec
Mit Illustrationen von Nicola Koch, Axel Röthemeyer, Eva Simone Scheuermann und Alex Dreppec
ISBN 978-3-943292-21-3, 156 Seiten, chiliverlag 2014, 8,90 Euro