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Gedicht des Monats

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Gedicht des Monats Dezember

Claudia Scherer (*1954)
was ich noch besitze

ein bikini oberteil
aus der lehrzeit
lila mit kleinem
geflicktem loch

ein brett quadratisch gewölbt
von einem jugendfreund

ein döschen für aquarellnäpfchen
durchsichtig
geschenk des schreibwarenhändlers
darin nähnadeln

einen kettverschluss
zweier teile zum ineinanderschieben
von einer der beiden ledigen tanten

die griffelschachtel der
älteren geschwister
bemalt mit wachsmalstiften
außen türkis mit grün
innen rosarot

woran ich mich erinnere
an ein nachtgrundiertes bild
hälftig mit apfelbaum und
abgewandtem gesicht
leuchtend darin ein glühbirnen
auge

aus: Poesiealbum neu, "Deutsche Inventuren", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2012

Gedicht des Monats November

Joanna Lisiak (*1971)
Zusammengerechnet

Hier habe ich gerechnet.
Hier habe ich auch gerechnet.
Hier nicht gerechnet.

Verrechnet habe ich mich hier.

Mit dir habe ich nicht gerechnet.
So gar nicht wirklich.
Aber mit dem anderen habe
ich schon erst gar nicht
gerechnet.
Wirklich nicht.

aus: Poesiealbum neu, "Deutsche Inventuren", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2012

Gedicht des Monats Oktober

Alexandra Huth (*1995)
Engel No. 4

Wunderschön und sorglos
sitzt Du
vor mir in der Straßenbahn
und bist der Grund dafür,
dass ich mir
lächerlich vorkomme
und selbst am Zweifel an allem zweifle
Du bist fürchterlich anzusehen
in deiner Vollkommenheit
mit der
wuchtigen Sporttasche zu Füßen
und solange
Dich der Künstler
Nicht auf eine Straße versetzt,
die hoffentlich
stahlgrauen Augen
auf schmalem Grade hin und her wandernd
muss ich Dich lieben

was liest Du?

Jetzt steckst Du Dein Buch weg
tief ins Unikat
stehst verschwommen auf
und Bambi nimmt Deinen Platz ein
um mich
nicht zu trösten.

Preisträgerin des Lyrikwettbewerbs "Willkommen und Abschied" 2012 der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.;
Schülerin der Max-Klinger-Schule (Gymnasium) Leipzig, lebt in Leipzig.

Aus: "Immer schneller. Schülergedichte", Poesiealbum neu-Sonderheft, Leipzig 2012

Gedicht des Monats September

Elisabeth Hackel (*1924)
Bestandsaufnahme

Inventur in Arsenalen –
Entweder zu viele Waffen
oder zu viel Frieden?

Alles muß raus für die neue
Raketenkollektion!
Wir rüsten ab!
Feiern Sie mit!
Gewinnen Sie unseren Superkrieg
Bei einer Kaffeefahrt ins Blaue

Quelle: Poesiealbum neu »Deutsche Inventuren«, Edition kunst & dichtung Leipzig, 2012

Gedicht des Monats August

Siegmar Faust (*1944)
KRONPRINZ-RUDOLF-INSEL

Hier lässt sich die Natur gern aus der Hand lesen
ungesichert darf man Gletscher betreten oder
die Brutfelsen der Raubmöven
sogar Triebfahrten auf Treibeis sind im Angebot
oder Walrossreiterei der Hohen Schule
zum Schluss ein Versteckspiel mit Eisbärenbabys
man muss nur seine Fantasie in die Freiheit entlassen

Sämtliche Eiscafés Berlins oder Wiens sind vergessen
lutscht man hier als Eigenbrötler
am weißen Wunder Gottes
die Augen heucheln das große Einsehen mit
gnädiger Frist für Moosfelder und Polarmohn
auch andere Ereignisse geschehen ganz ohne mich
niemand ist in Sicht der diese Ansicht teilen will

Auch will sich keiner den grausamen Erinnerungen
an das 20. Jahrhundert hingeben hier herrscht
das Prinzip des Wandels durch Ausnüchterung
Rotalgen blühen im Schmelzwasser meiner Tränen
mein demokratisches Schluchzen
verhallt unerhört im richtungslosen Eiswind -
dennoch naht ein kosmischer Sturm

Alkvögel krallen sich in das Letzte ein
was sie von mir nicht verlangen können:
mein nacktes Leben.

Quelle: »Poesiealbum neu« Ohne Gepäck. Reisegedichte, Leipzig 2012

Gedicht des Monats Juli

Dieter Höss (*1935)
Reisen
(frei nach Gottfried Benn)

Meinen sie, Basel zum Beispiel
sei eine andere Stadt?
Oder meinen sie, Appenzell
sei eine andere? Oder Zermatt?
Oder Winterthur?
Oder Luzern?
Oder Interlaken?
Oder Chur?
Oder Bern?
Oder meinen Sie, Zürich als Reiseziel
hätte nicht auch seinen Haken?
Hat Zuhausebleiben
nicht auch seinen Reiz?
Und was meinen Sie: Liegt
das an Ihnen –
oder liegt's an der Schweiz?

aus: "Poesiealbum neu", Leipzig 2012 "Ohne Gepäck. Reisegedichte"

Gedicht des Monats Juni

Felix Jueterbock (*1995)
Im Atem der Großstadt

Blinkende Ampeln
im Pulsschlag der Stadt.
Adern aus Autos
glänzen matt.

Lichtketten säumen
die dreckige Luft.
Hochhäuser schauen
hinauf aus dem Dunst.

Geronnenes Blut
treibt endlos im Zentrum.
Zerläuft durch die Masse,
schwerfälliges Metrum.

Geisterhaft langsam
wogen die Teilchen.
Im endlosen Takt
des Atems der Großstadt.

Felix Jueterbock, Schüler des Evangelischen Schulzentrums Leipzig, ist Preisträger des Lyrikwettbewerbs "Willkommen und Abschied" 2012 der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und lebt in Leipzig.

Weitere Preisträgergedichte finden Sie im Sonderheft der Reihe "Poesiealbum neu" mit dem Titel "Immer schneller. Schülergedichte", das wir vornehmlich Schulen als Klassensatz (20 Exemplare zum ermäßigten Preis von insgesamt 40 €) zur Verfügung stellen.
Bestellungen nehmen wir gern entgegen: Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! Sie müssen JavaScript aktivieren, damit Sie sie sehen können.

Gedicht des Monats Mai

Christine Hoba (*1961)
wasser und licht

glocken in venedigs
sonntagmorgen, ein
auf und ab schwellendes
schwingen von
schiffsglocken nahe
dem land, riesige
aus dem schaum des
morgens ragende
schiffe und tief
zu ihren rümpfen
schwärmen die kleinen
alten frauen, die
flitzenden kinder
und in die gassen
entkommen sie
den netzen der
menschenfischer

&xnbsp;&xnbsp;

II
in den kanälen schaukeln
die farben spiegeln sich
die fassaden der häuser -
ocker und karmin
schleppende schmuggler
an der grenze zwischen
wasser und licht

&xnbsp;

III
wir sind vorwitzige
fische in venedigs
straßen und auf den
campos liegen wir mit
staunenden augen
ausgebreitet auf den
tischen der händler

&xnbsp;

IV
unterm laternenmond
der schwungschlag der
wellen in den kanälen
treiben unsere
papierschiffe
drehen ab zur ausfahrt
einer libellenarmada

aus: Poesiealbum neu "Ohne Gepäck" Reisegedichte

Gedicht des Monats April 2013

Oskar Ansull (*1950)
bestandsaufnahme

von nichts kommt nichts
kommt eins zum andern
und alles & nichts addiert
sich und ist nicht zu teilen
ist was es ist und was es
nicht ist und das ist alles

aus: Poesiealbum neu "Deutsche Inventuren"

Gedicht des Monats März 2013

Róža Domašcyna (*1951)
Als ich klein war

waren die schlüssellöcher groß
sang ich arien aus dem effeff
baute dämme und eine ganze stadt
fuhr mit dem zug auf dem äquator
überquerte mit dem papierschiff den Nil
und rollte die sonne auf der hohlen hand

aus: Poesiealbum neu "Ohne Gepäck. Reisegedichte"

Gedicht des Monats Februar 2013

Pia Schirrmeister (*1996)
Einige

Einige drehten sich wie Kreisel um sich selbst,
um nicht fühlen zu müssen

Einige schauten zu Boden,
um nicht gesehen zu werden

Einige lasen,
um zu verstehen

Einige stritten,
um Recht zu haben

Einige nickten mit dem Kopf zur Musik,
um das Leben zu spüren

Einige lächelten,
um unzerbrechlich zu wirken

Einige redeten über die Zukunft,
um Vergangenem zu entfliehen

Einige starrten aus den Fenstern,
um den Sinn in der Weite zu finden

Einige schlossen die Augen,
um zur Ruhe zu kommen

Einige schrien,
um bemerkt zu werden

Einige bewegten sich hin und her,
weil sie die Zeit hassen

Alle saßen sie hier,
um anzukommen

Preisträgerin des Lyrikwettbewerbs "Willkommen und Abschied" 2012
der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.;
Schülerin des Wilhelm-Ostwald-Gymnasiums Leipzig, lebt in Leipzig.

Gedicht des Monats Januar 2013

Hans-Jürgen Heise (*1930)
Klassenlose Gesellschaft

… wer hätte nicht gern
ein Eigenheim
am Rande des Universums / dort
wo es keine Einbrüche
an der Börse gibt
und Gott gemütlich
wie Großvater einstens
seine Sprungdeckeluhr
aufklappt und sagt Friede
den Palästen den Hütten
auf Erden endlich
ist Jüngster Tag

aus: "Poesiealbum neu", 1/2007

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