Gedicht des Monats
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Dezember
Georg Oswald Cott (*1931)
Großmutter Lina
Immer das Foto gezeigt
Großmutter Lina ganz in Weiß
mit Kutsche und Pferd
auf dem Königsweg
schon bald Jäckchen gestrickt
und sechs Kinder geboren
die Kleinen großgekriegt
über den Steckrübenwinter
später sind drei
in Rußland geblieben
Staublunge der Mann
starb im Pütt
die Lupe vor Augen
Wasser im Knie
bis zuletzt Marmelade gekocht
die rote die schwarze Johannisbeere
Glas um Glas im Regal
in Schönschrift die Namen die Erntetage
und keinem der Sütterlinbögen
sah ich die Gichtfinger an
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
November
Ulla Hahn (*1946)
Geschichtsschreibung
Fortgegangen um Käse zu kaufen oder
waren es Bratheringe, wir werden niemals
erfahren was war. Es steht nirgends
geschrieben. Die Haustürschlüssel das Porte
monnaie mit kleiner Summe die Tasche aus Bast
In Turnschuhen und Jeans verliert sich ihre Spur
zwei Ecken hinterm Bezirksamt.
Einer trug Schmerz wer weiß wie lange
Wir werden es niemals erfahren
Viele wiegten den Kopf oder lachten erleichtert
Schnell gingen die Jahre vorbei
Jetzt wo der Herbst durch Blätter und Bilder fährt
eure Augen tränen von scharfen Winden
glaubt ihr sie in mir zu erkennen
als wäre ich nicht längst fortgegangen
war es um Käse zu kaufen oder Heringe
das Portemonnaie die Tasche der Bast
ihr werdet es niemals erfahren.
Es steht nirgends geschrieben.
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Oktober
Ingo Cesaro (*1941)
SCHLECHTE AUSSICHTEN
zehn oder
schon fünfzehn Mal
war er ausgerückt
jede Möglichkeit
die sich ihm bot
nutzte er
einem Fernfahrer
der ihn bis nach Jugoslawien
mitnahm
erklärte er:
ich kann nicht
zuhause warten und zusehen
wie ich meinem Vater
von Tag zu Tag
immer ähnlicher werde.
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
September
Ulrike Draesner (*1962)
bdm, body mass
als kleinkind verwechselte sie SS und iß
sagte sie später "ich habe die hauaufgaben
gemacht" lachte der vater: ein kavalier
spielt klavier geht zur kavallerie, sie
sagte krawall da stand sie im saal
aus zöpfen, saugend, blond, im lärm
während sie innen still mit ihrem wiesel
in den wald wanderte das tier schnappte
und warf selbstgenerierendes selbstlöschendes
licht aus den doppelten rosa augen
die sich der industrie verdankten, bdm
bund deutscher marken. bereits der weibliche fötus
trägt die eier der zukunft im bauch das plüschtier
stieß helga ein wenig zärtlich mit den frisch
gefertigten goldkrällchen an. zärtlich die gesetze
zum schlachten der tiere - - - im vergleich.
das einsamste kind hieß seit 1933 pippi
was nicht mehr übersetzt hatte werden
dürfen. helga sprach kurz auf kindisch
von glück öffnete im bett vor dem löffel
für sekunden die ergrauenden
augen
Helga Goebbels, 1.9.1932 - 1.5.1945
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
August
Heiner Müller (1929-1995)
Der Vater
1
Ein toter Vater wäre vielleicht
Ein besserer Vater gewesen. Am besten
Ist ein totgeborener Vater.
Immer neu wächst Gras über die Grenze.
Das Gras muß ausgerissen werden
Wieder und wieder das über die Grenze wächst.
2
Ich wünschte mein Vater wäre ein Hai gewesen
Der vierzig Walfänger zerrissen hätte
(Und ich hätte schwimmen gelernt in ihrem Blut)
Meine Mutter ein Blauwal mein Name Lautréamont
Gestorben in Paris
1871 unbekannt
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Juli
Birgit Littmann (*1951)
Matriarchat
Als Kinder spielten wir oft
Vater, Mutter, Kind.
Ich war die Mutter,
Gut, nur gelegentlich böse,
Die Göttin. Vielleicht
War das der Anfang
Meines kurzen Matriarchats.
aus: Poesiealbum neu "In Familie. Gedichte", Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Juni
Anton G. Leitner (*1961)
Lover Boy, Anno '86
Das waren noch
Zeiten, als die
Atomsirenen heiß
liefen zur Probe
und ich zwei
Rußlandfeldzüge
hinter mich brachte
auf der Schulbank,
um dann John F.
zu lieben, der
Rosinen abwarf
nach den Bomben
und mir die Mallows
gab und Gum-Gum-
Geschosse,
mit denen ich
MPs durchlud
aus Plastik,
und auf Baader
zählte und Ulrike
und ein bißchen
verrückt spielte
und ein bißchen
Castro fidelte,
bevor ich Almut
fand, die treue
Gattin, die dann
Kinder mit mir
hatte und brave
Hausfrau war,
die nur den
Kochherd demonstrierte
vor Gleichgesinnten
und Sympathisantin war
von Friedenstauben,
die ich zu Körnern
mahlen mußte
und in Jutesäcken
trockenrieb,
bis unser täglich
Braten daraus
wurde, und mir
der Sack als
Anzug blieb.
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Beachten Sie bitte auch unseren aktuellen Gedichtfilm-Wettbewerb, dieses Gedicht ist Teil des Angebots.
Mai
Brigitte Struzyk (*1946)
Auf Befehl, Mensch! (Männer!)
Dünengras, dürrer Hafer, Segge
kämmen sich schön, stramm
steht die Sonne, High noon.
Im Laufschritt kommt der Horizont
dem Meer entgegen. Eine Wand
von Männerbeinen schirmt
es ab. Das Weite. Hier: das Friedensmeer.
Einer pfeift. Einer schreit. Einer ruft:
"Stillgestanden!" Das Meer steht still.
Möwen kreischen, Krähen fliegen auf,
drehen ab. "Legt ab! Zack, zack!"
In Fleisch und Blut fährt der Befehl
von hundert Männern, einer Hundertschaft.
Sie knallt gelernt die Hacken, zack! zusammen.
Sie rührt sich, wie von Flügelklatschen stiebt
Sand auf, er wirbelt, es wird abgelegt.
Hundert Männer, eine Hundertschaft
geht, Sprung auf, Marsch Marsch
auf Befehl in diese spiegelglatte See.
Paradebaden. Auf Befehl dann wieder raus
In Reih und Glied.
Kleingeschrumpft vom Meer
die Glieder.
Zu dem Handtuch wird auf Befehl gegriffen,
wird das Handtuch geworfen, dann nur auf Befehl.
Schöne nackte Männerleiber. Sie könnten auch gefallen,
sie könnten auch gefallen sein im Verteidigungsfalle
organisierten Verbrechens.
Wieder in Uniform,
trabt die erfrischte Hundertschaft
zum Horizont,
siegesgewiss
und voller Angst,
verrückt zu werden, versetzt
in einen heißen Krieg.
Geht dort eine Armee baden,
wird es ein Blutbad sein.
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
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April
Wolf Peter Schnetz (*1939)
Feindbild
Mein größter Feind
ist das Feindbild,
gemacht
aus dem Stoff
beliebiger Worte.
Ich erkläre
den Nächsten
zum Feind.
Ich sage:
anders bist du als ich,
also bist du
mein Feind.
Was, frage ich,
hindert mich daran,
weiter zu fragen:
hat Gott
sich den Menschen
zum Feindbild erschaffen?
Geschaffen
aus dem täglichen
Abfall der Worte,
wurde am siebten Tag
das Feindbild
mein Abgott
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
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März
Ulrich Schacht (*1951)
RUSSISCHE HARMONIKASPIELER
Gedeckte Tische unter den Arkaden die
Häuser stehn im Regen der in die Fleete
stürzt. Hier werden keine Schiffe
mehr entladen, die Speisen auf den
Tellern: syrisch gewürzt. Die Frau der
Mann, in Händen Instrumente, spielen
sich zu die Last der kleinen Lust in den
Kulissen schöner Temperamente keimt
auf der Krieg. Ganz unbewusst
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
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Februar
Hartmut Löscher (*1937)
Als Siebenjähriger
Schläge gegen die Haustür
meine Mutter nahm mich mit nach oben
unten im Keller die jüngeren Geschwister
und die verrückt gewordene Großmutter
Wir starrten auf die Gewehrmündung
Während die Mutter zusammenklaubte
wonach sie verlangten
und was sie nicht fand
– Uhren Fotoapparat Waffen –
war ich Geisel der MP
Am anderen Tag requirierte man
was man im Auge hatte –
das ganze wie eine Flussmuschel
auseinanderklaffende Haus
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
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Januar
Manfred Moll (*1951)
in diesen tagen
in diesen tagen der eroberungen
will ich kein verteidiger sein
will nicht verteidigen
was ich nicht gepflanzt habe
was ich nicht gebaut habe
was nicht mir gehört
will ich nicht verteidigen
selbst das meine
will ich nicht verteidigen
ich will schutzlos bleiben
meine tür bleibt unverschlossen
in einer zeit
wo weder gnade noch recht ergeht
damit
was nirgends einen ort hat
eine heimat findet
bei mir
Quelle: Poesiealbum neu, "Gegen den Krieg. Gedichte & Appelle",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
Track von "Schwarze Ängste. Neue Gedichte gegen den Krieg",
Hörbuch, gesprochen von Maja Gille, Claudia Müller und Axel Thielmann,
musikalische Klangbilder "Die Lyrischen Saiten",
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2013
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